Digitale Bildung? Zeitgemäße Bildung? Unzeitgemäße Bildung!

Gute Bildung ist nicht zeitgemäß, sondern unzeitgemäß

Angesichts der Digitalisierung herrscht im virtuellen Lehrerzimmer eine rege Diskussion über die Frage: Was ist zeitgemäße Bildung? Ich sage: Bildung, die Schüler*innen auf eine gutes Leben in einer ungewissen Zukunft vorbereiten soll, muss vor allem unzeitgemäß sein!

Eines Abends beschloss Dejan Mihajlovic seine Gedanken über Veränderungen im Schulsystem künftig nicht länger mit dem Hashtag #digitaleBildung zu versehen. Stattdessen veröffentlichte er seine Ideen künftig unter dem Etikett #zeitgemäßeBildung. Über diesen Sinneswandel berichtete der Freiburger Lehrer nicht nur in seinem Blog, sondern kürzlich auch in einer sehr hörenswerten Podcast-Folge von Edukativ.fm.

Mihajlovic verbindet in dem Gespräch mit Jöran Muuß-Merholz mit dem Hashtag-Wechsel eine Kritik an einer digitalen Bildung, bei der lediglich die bestehenden Lern-Stukturen des Schulsystems digitalisiert werden. Dies verdeutlicht er exemplarisch am Prinzip Flipped Classroom: Das Verfahren digitalisiert aus Mihajlovics Sicht das Modell des Nürnberger Trichters – die Inhalte werden den Schüler*innen dabei lediglich nicht mehr als frontaler Lehrervortrag vor der Klasse, sondern als Video eingetrichtert. Die Kritik: So verstandene digitale Bildung serviert lediglich alten Wein in neuen Schläuchen.

Eine in diesem Sinne durchgeführte Digitalisierung des bestehenden Schulsystems reicht Mijhalovic nicht aus, weil sie das „große Ganze“ des digitalen Wandels aus dem Blick verliert. Mit dem Begriff „zeitgemäße Bildung“ verbindet er eine ganzheitliche Bildung, die alle Facetten des Lebens in der (digitalen) Welt berührt.

Mihajlovics neuer Hashtag #zeitgemäßeBildung hat in den Echokammern der sozialen Medien Nachhall erzeugt: Viel Pädagogen im virtuellen Lehrerzimmer bei Twitter und Co. sind dem Vorbild von Mihajlovic gefolgt und verwenden den Begriff, um ihre Ziele zu beschreiben. Und auch ich habe unlängst in einem Blog-Beitrag darauf referenziert und beschrieben, warum die Digitalisierung nur ein Puzzle-Teil in der Schulentwicklung sein kann.

Obwohl ich in dieser Hinsicht mit Mihajlovic einig bin, teile ich nicht seine Auffassung, dass der Begriff „zeitgemäße Bildung“ unsere vermeintlich gemeinsame Haltung gut beschreibt. Das wurde mir klar, als im Laufe des Gespräches der Interviewer Jöran Muuß-Merholz bei der Bemühung um Schärfung des Begriffes „zeitgemäß“ die Behauptung aufstellte: „Niemand würde unzeitgemäße Bildung fordern“.

Diese These ist offensichtlich falsch. Denn ich tue genau das:  Ich fordere ein Schulsystem, dass eine unzeitgemäße Bildung fördert. Ich möchte in diesem Beitrag erklären, warum „unzeitgemäße Bildung“ aus meiner Sicht nicht nur meine Haltung beschreibt, sondern womöglich auch zumindest in Teilen der Position von Dejan Mihajlovic entspricht, so weit ich diese verstanden habe.

These 1: Gute Bildung ist zeitlos

Der Begriff „zeitgemäß“ erweckt den Eindruck, dass Bildung sich an die gegenwärtige Realität oder an zukünftige Herausforderungen anpassen muss. Gute Bildung sollte sich aber weder an der Gegenwart noch an der Zukunft orientieren. Insofern sie zeitlos ist, ist sie unzeitgemäß. Diese These möchte ich im Folgenden begründen.

An der Gegenwart orientierte Bildung ist kurzsichtig

Der Begriff „zeitgemäße Bildung“ beschreibt laut Dejan Mihajlovic eine Bildung, die sich „an aktuellen Herausforderungen misst“. Eine an der Gegenwart orientierte Bildung birgt allerdings die Gefahr, kurzsichtig zu sein und sich an den Zeitgeist anzupassen. Und dieser ist flüchtig und manipulierbar. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass eine so verstandene „zeitgemäße Bildung“ zu Verirrungen führen kann.

Ein Beispiel: Der Wechsel zu G8 und die Bologna-Reformen waren nicht zuletzt dem von Konzernen maßgeblich beeinflussten neoliberalen Zeitgeist zur Jahrtausendwende geschuldet, der Bildung vor allem dem Primat der Ökonomie und unterordnete. Nachdem diese Reformen mit großer Geschwindigkeit durchgewunken wurden, um die Bildungsinstitutionen „zeitgemäßer“ zu machen, ist die Bildungspolitik nun schon Jahre damit beschäftigt, die schädlichen Auswirkungen der Entscheidungen wieder zu korrigieren.

An der Zukunft orientierte Bildung ist Glaskugel-Pädagogik

Doch nicht nur der Blick auf die Gegenwart kann in die Irre führen – auch die Zukunft eignet sich nur bedingt als Richtschnur für Bildung. Dejan Mihajlovic betont bei seiner Deutung des Begriffes „zeitgemäß“ den Vorzug, dass er die „nie endenden Entwicklungsprozess beschreibt“. Dieser ist laut Mihajlovic erforderlich, weil sich in der Zukunft vollkommen neue Herausforderungen stellen – exemplarisch führt er dabei den Wechsel von der Gutenberg- zur Turing-Galaxis an.

Ich bin der Auffassung, dass Schulen Kinder und Jugendliche unmöglich auf die Zukunft vorbereiten können. Die Dynamik der Gesellschaft ist so groß geworden, dass das Bildungssystem und auch jeder einzelne Pädagoge unmöglich mithalten können – vor allem weil im Alltag kaum Zeit dazu bleibt darüber nachzudenken. Zudem sind viele Entwicklungen der digitalen Zukunft unmöglich abzuschätzen: Wer weiß schon welche Auswirkungen Automatisierung oder KI auf unsere Gesellschaft haben werden?

Ohnehin ist die Digitalisierung, auf die sich Mihajlovic vor allem bezieht, nicht der einzige Megatrend, den es zu beachten gilt: Gentechnik, Urbanisierung, Globalisierung oder der Klimawandel werden wahrscheinlich ebenso weitreichende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben. Pädagogen, die dem Anspruch gerecht werden wollten, Schüler auf eine dermaßen ungewisse Zukunft vorzubereiten, müssten eine ziemlich zuverlässige Glaskugel besitzen.

Nur unzeitgemäße Bildung bereit auf ungewisse Herausforderungen vor

Weil weder der Zeitgeist der Gegenwart noch Prognosen der Zukunft ausreichend Orientierung bieten können, gilt aus meiner Sicht: Wenn Schulen ihre Schüler*innen auf ein gutes Leben in einer ungewissen Zukunft vorbereiten sollen, scheint mir gerade eben nicht zeitgemäße, sondern unzeitgemäße, weil zeitlose Bildung die Lösung zu sein; eine Bildung die Schüler*innen zu mündigen Erwachsenen erzieht, die allen erdenklichen Herausforderungen einer Zukunft möglichst gut gewachsen sind.

Genau das war eigentlich schon immer der Auftrag von Bildung. Und ich glaube, das ist auch der Kern dessen, was Mihajlovic unter zeitgemäßer Bildung versteht. Das lässt sich auch am Fazit von Mihajlovics Blog-Beitrag zeigen. Er schreibt:

Zeitgemäße Bildung leitet eine Epoche der zweiten Aufklärung ein und strebt eine Mündigkeit an, die unsere Gesellschaft aus der Beobachterstellung befreit und zur Mitgestaltung des digitalen Wandels befähigt.“

Kürzt man diesen Satz etwas, zeigt sich, dass Miahjlovic letztlich etwas einfordert, was schon immer der Anspruch Bildung war:

Zeitgemäße Bildung leitet eine Epoche der zweiten Aufklärung ein und strebt eine Mündigkeit an, die unsere Gesellschaft aus der Beobachterstellung befreit und zur Mitgestaltung des digitalen Wandels befähigt“.

Ein Blick zurück zeigt Perspektiven für die Bildungs-Zukunft

Wie muss nun ein Schulsystem aussehen, das diesen unzeitgemäßen, weil zeitlosen Bildungsanspruch einlöst? Es hilft, einen Blick zurück zu werfen. Seit Jahrtausenden denken Menschen darüber nach, wie gute Bildung funktioniert. Dass einige von ihnen Klassiker-Status erworben haben, zeigt, dass ihre Einsichten zeitlosen Wert haben. Eine kleine unsortierte Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Bildung sollte Schüler*innen ermöglichen…

  • ganzheitlich zu lernen – also mit Kopf, Herz und Hand (Johann Heinrich Pestalozzi)
  • ihr Lernen selber zu steuern (Maria Montessori)
  • sich mit ihrer eigenen Umwelt und den Fragen, die sie aufwirft, zu beschäftigen (Jean Jacques Rousseau)
  • durch Tun zu lernen (Comenius)
  • sich auf der Suche nach Wahrheit  in intensiven Gesprächen kritisch mit sich selbst und der Welt auseinander zu setzen (Sokrates)
  • Autonomie zu entwickeln (Immanuel Kant)
  • ihre Persönlichkeit zu entfalten  (Wilhelm von Humboldt)
  • das eigene Selbst in der Begegnung und der Verantwortung für den Anderen zu finden (Emmanuel Levinas)
  • sich in Partizipation und Demokratie zu üben (John Dewey)

Die 4K sind nicht anderes als recycelte Reformpädagogik

Wer diese klassischen Anforderungen an Bildung mit der Schulrealität vergleicht, wird feststellen, wie weit wir davon entfernt sind, diese Ideale einzulösen. Betrachtet man diese Aufzählung von Kerngedanken klassischer Bildungstheoretiker zeigt sich aber auch: Die derzeit nicht nur von Mihajlovic viel zitierten 4K – Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und kritisches Denken – sind letztlich nichts anderes als eine moderne Übersetzung einiger dieser klassischen Aspekte von Bildung – darauf hat schon Lisa Rosa hingewiesen.

Das zeigt nochmal: Bildung ist im Kern zeitlos und somit unzeitgemäß. Dazu passt auch Mihajlovis im Podcast geäußerte These, dass es womöglich gerade eben nicht die Speerspitzen der digitalen Bildung sein werden, die den Fortschritt im Bildungssystem voran treiben werden.

Das heißt ausdrücklich nicht, dass im Unterricht nicht aktuelle und/oder digitale Probleme behandelt werden sollten. Aber nicht in erster Linie, weil sie zeitgemäß sind, sondern weil sie die Probleme der Schüler*innen sind. Im Zentrum der Bildungsbemühen von Schulen sollte stehen, dass die jungen Menschen durch die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart die zeitlos wichtigen Kompetenzen erwerben, die sie für die Zukunft brauchen: Autonomie, Empathie, Kritikfähigkeit und so weiter. Digitale Technik in der Schule muss sich daran messen lassen, inwiefern sie dazu einen Beitrag leisten kann.

These 2: Gute Bildung widersetzt sich dem Zeitgeist

Der Begriff „unzeitgemäß“ ist auch deswegen besonders gut geeignet, weil er neben dem Aspekt der Zeitlosigkeit eine weitere Facette aufweist: Denn ein unzeitgemäß gebildeter Mensch ist auch insofern mündig, als dass er den Zeitgeist widerstehen kann. Dies entspricht der Deutung des Begriffes „unzeitgemäß“ von Friedrich Nietzsche in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen„.

Wie wichtig es ist, dass Bildung sich dem Zeitgeist widersetzt, lässt sich wiederum anhand Mihajlovics Blick auf die digitale Bildung erläutern. Er weist richtigerweise darauf hin, dass die Gefahr besteht, dass die Digitalisierung des Bildungssystems wiederum vor allem im Hinblick auf die Anforderungen der Wirtschaft gesteuert wird. Die zahlreichen Digital-Initiativen von Apple, Google, Facebook, Telekom oder Bertelsmann zeigen, dass die Konzerne die Digitalisierung der Schulen mitgestalten wollen. Und sie haben die ökonomische Macht, den Zeitgeist zu prägen.

Gesucht wird „Humboldt 2.0“

Umso wichtiger erscheint hier die Diskussion um eine unzeitgemäße pädagogische Haltung, die Lehrer*innen den kurzfristigen ökonomischen Interessen  der Unternehmen entgegenstellen kann. Diese wird im Netz nicht zuletzt auch bei Twitter schon hitzig geführt.

Wenn wir Bildung in Nietzsches Sinne als unzeitgemäß definieren, macht das das Schulsystem widerständsfähiger gegen dem Zeitgeist geschuldeten Reformeifer und Lobbyismus. Es war falsch Bildung den Imperativen der Ökonomie wie Effizienz und Verwertbarkeit zu unterwerfen, was zur Verkürzung von Ausbildungszeiten und Credit-Point-Systemen führte. Genau so falsch ist es aus meiner Sicht, dem auf FDP-Wahlplakaten manifestierten Imperativ zur Digitalisierung ohne Bedenken zu folgen.

Das bedeutet aber nicht, so zu tun, als gäbe es die Digitalisierung nicht und stur an den Rezepten der Altvorderen festzuhalten. Lisa Rosa hat in ihrem sehr lesenswerten Artikel „Welche digitale Bildungsrevolution wollen wir?“ darauf hingewiesen, dass es die Aufgabe der Bildungsexperten ist, Alternativen zu den Entwürfen der Unternehmen zu entwickeln – gesucht wird laut Rosa nicht weniger als ein „Humboldt 2.0“.

Es gilt dabei zu reflektieren, wie die Lehren aus der Vergangenheit auch in der zunehmend digitalen Gegenwart fruchtbar gemacht werden können, um die Zukunft zu gestalten. Oder wie Nietzsche im Vorwort zu seiner unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ von mir nur leicht modifiziert zitiert formuliert:

„Denn ich wüsste nicht, was [Bildung] in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäß – das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken.“

Der Begriff unzeitgemäß erinnert in diesem Sinne daran, dass Bildung sich eben nicht an den vermeintlichen Anforderungen einer flüchtigen Gegenwart, sondern an den überzeitlichen Idealen orientieren muss, die sich am Wohl der Schüler*innen als Menschen und somit letztlich an der „conditio humana“ ausrichten.

Digital? Zeitgemäß? Unzeitgemäß? Echte Bildung!

Vielleicht kommt es vor diesem Hintergrund gar nicht so sehr darauf an, ob wir von digitaler, zeitgemäßer oder unzeitgemäßer Bildung sprechen. Womöglich reicht es aus, wenn wir in unserem Schulsystem endlich echte Bildung ohne Bildungslücken ermöglichen.

17 Gedanken zu „Gute Bildung ist nicht zeitgemäß, sondern unzeitgemäß

  1. Lisa Rosa

    Ich versuche eine kurze Replik auf den interessanten Beitrag.

    1. Ja, kurzfristig v e r z w e c k t e Bildung kann nicht gut sein.
    Denn Verzweckung ist nie im Interesse der verzweckten Menschen, die immer verzweckt werden von Partikularinteressen einzelner Menschen, die andere ausbeuten. Sie ist auch nicht im Interesse der Menschheit als Ganzer, denn das Gattungsinteresse (Aller Menschen) wird nicht aus dem Partikularinteresse Einzelner befriedigt. Wir sehen es nicht zuletzt an der seit Beginn des neuen Marktradikalismus zunehmenden Kaperung ganzer Gemeinwesen (Nationalstaaten) und ihrer sozialen und politischen Institutionen durch die ökonomischen (Profit-)Interessen der Wenigen.

    2. Und nein, u n z e i t g e m ä ß e Bildung kann ebenfalls nicht gut sein.
    Was unzeitgemäß ist, ist historisch veraltet, anachronistisch, dem Stand der kulturellen/gesellschaftlichen Entwicklung hinterher, den Bedingungen der Gegenwart sowie deren Problemen und ihren Bearbeitungsmöglichkeiten nicht adäquat.
    Mit Kant, Humboldt und Montessori allein lässt sich das Ding nicht wuppen. Gut ist natürlich, sie zu kennen. Denn man kann das Rad nicht neu erfinden. Man kann es nur neu bauen, und zwar mit den Mitteln der Gegenwart, und nur mit ihnen! Das Rad von 2017-25 m u s s anders aussehen, als das der Kants und Humboldts und Montessoris. Daher ist historische Bildung ( ein „Unter-K“ der 4 K heißt „historisch Denken Lernen“ – jedenfalls so wie ich es verstehe. Ohne historisches Denken keine Bildung, die heute und vllt auch noch morgen funktioniert. Funktionieren heißt: Ihre Funktion für die Gesellschaft und ihre Individuen erfüllen können.

    3. Denn nein, z e i t l o s e Bildung gibt es nicht.
    Nicht nur gute Bildung, alle Bildung ist zeitgebunden. Wenn es so nicht wäre, wären wir gar nicht da. Die Menschheit ist nur evolutionär – also sich entwickelnd – vorstellbar. Denn es gibt – ganz unabhängig von unserer Menschheitsgeschichte, eine Dimension des Universums, das ist die ZEIT. Sie ist nicht abzuschalten und sie ist jedenfalls für unser Erleben nicht reversibel. Alles, was wir tun und denken, k ö n n e n wir nur unter den Bedingungen der Gegenwart tun und denken. (Die vergangenen Bedingungen haben wir n i c h t m e h r , die zukünftigen n o c h n i c h t. ) Die gesellschaftlichen, natürlichen, kulturellen, örtlichen Bedingungen der Gegenwart sind also der Ausgangspunkt.
    Nun stehen wir mit allen gegenwärtigen Bedingungen – so widersprüchlich und konfliktuös sie sich auch zeigen – immer auch auf dem Verständnis der Genese dieser Bedingungen. (Wie sind sie so geworden?) Wenn wir ihr So-Gewordensein nicht verstehen, dann können wir sie nicht angemessen verstehen.
    Aber mit dem Anknüpfen oder Wiederausgraben vorheriger Denkergebnisse oder -Traditionen, hat es folgendes auf sich: Wenn wir sie aus ihrem historischen Kontext herauslösen und in unseren historischen Kontext (Gegenwart) mechanisch hineinstellen, dann funktionieren sie nicht.
    Kant, Humboldt und Montessori müssen also auf spezifische Weise b e a r b e i t e t werden, damit sie uns was bringen: 1. Muss man sie historisieren, d.h. in ihrem Kontext verstehen., 2. muss man sie aktualisieren, d.h. verändern, damit sie in unseren Kontext passen. Da aber Humboldt et al nicht die einzigen sind, auf deren Schultern wir stehen wollen (ich jedenfalls nicht), muss man das mit ALLEN machen, die zur Entwicklung der Menschheitsgeschichte und insbes. ihrer Denk-Geschichte entscheidend beigetragen. Also auch mit Marx und Luhmann und und und.
    Eine Vorstellung, die 4K wären bloß ein Recycling der alten Reformpädagogik, negiert, dass seit den Tagen der Reformpädagogik Zeit geflossen ist, in der Entwicklung stattgefunden hat. Wollen wir wirklich Kant, so wie er damals war? Dann haben wir auch den Rohrstock, die Mysogynie etc. pp ! Au nein!
    Für die Geschichte der Bildung, und v.a. die Geschichte ihrer jeweils zeitgebundenen Denke dahinter, was denn wohl Wissen und Lernen und Lehren sei, empfehle ich wiederholt ganz ausdrücklich Bernd Fichtner, Lernen und Lerntätigkeit. Ontogenetische, phylogenetische und epistemologische Studien.
    Weil Lernen, Wissen und Verstehen die Voraussetzung für kompetentes Handeln in der Gegenwart das lesende Studieren verlangt. Aus der Anschauung der Alltagspraxis allein ist es nicht zu haben – im Gegenteil, oft führt ja der oberflächliche Schein der Dinge in ein Fehlverständnis.
    Unter den 4 K muss man heute etwas anderes verstehen, als das, was „damals“ verstanden wurde. Kritisches Denken – m u s s heute etwas anderes sein als für Kant. Die Frage ist, worin heute anders, und wo kann man anknüpfen.

    3. Es wird also gefragt, was denn gute, also angemessene, also zeitgemäße Bildung sei.
    Bildung unter den Bedingungen der Jetztzeit. Die kann man natürlich sehr verschieden konzeptualisieren. Ich bin allerdings der Meinung, dass man die Digitalität in ihrer alles umwälzenden Wirkung als Ausgangserscheinung und als Haupt- Merkmal der Gegenwart nehmen muss. Alles andere ist „unter den Bedingungen der Digitalität“ zu sehen und zu definieren. Das heißt weder, dass es „nichts anderes gäbe“, noch heißt es: Es ist klar, wie das Verhältnis zwischen den Dingen aussieht.
    Dein Post sagt: Es gibt dies und jenes. Das ist ein additives Verhältnis. Ich sage, das Verhältnis zwischen den Erscheinungen/Dingen ist so nicht zu verstehen. Es geht auch nicht darum, was aus Kant et al hergebracht verstanden wird, dass es um eine Balance zwischen den Dingen ginge. Oder der aus dieser Vorstellung erwachsende berühmte Mittelweg (ein bisschen dies, ein bisschen das, nix radikales, übertriebenes, dann wirds schon.)
    Für Kant, Humboldt und Montessori war die Welt konzeptionell eine lineare dualistische. Entweder war etwas richtig oder es war falsch. Ganz einfach. Das ist der historisch geformte Horizont der Industriegesellschaft/bürgerlichen Wissenschaft. (Es bildete sich nach Hegel mit Marx eine Alternative: Man nennt sie Dialektischer Materialismus.)
    Nicht nur die Ökonomie und die Medizin, Naturwissenschaften et al haben sich entwickelt. Auch das Denken.
    Heute haben wir dank Kybernetik, Systemtheorie und der Vorstellung der Komplexität eine mehrwertige statt einer linear dualistischen Denkmöglichkeit. (Ich lege sie ans Herz, denn sie hat sich in „Bildungskontexten“ noch lange nicht als echtes Verständnis mit allen Implikationen durchgesetzt, daher der Anachronismus in der Schul-Denke). Erst die Vorstellung der Komplexität hat das Denken, das wir manchmal auch „multiperspektivisch“ nennen überhaupt erst konzeptuell ermöglicht. Die neue Frage ist nicht mehr „ob etwas ist oder nicht“, sondern „inwiefern es sowohl ist, als auch nicht ist“. Das konnten Humboldt, Kant und Montessori nicht denken! Wir aber können es nicht nur denken – als Kinder der Zeit – sondern wir m ü s s e n es denken können, sonst fällt uns der Globus unter dem A. auseinander. Denn wir haben zum sehr viel komplizierter gewordenen „Kritisch Denken“ unter den Bedingungen von heute noch das Problem, dass wir zum ersten Mal einen immensen Zeitdruck haben: den Klimawandel. Dieser Druck ist NEU! Vorher konnte die Menschheit für alles solange brauchen, wie sie eben brauchte, um ihre Probleme zu lösen.
    Unter den Bedingungen der Digitalität ist also das Lernen dessen, was für die Gattung heute (nicht gestern) um ihres Überlebens willen nötig ist, einerseits viel schwierigerer Tobak als „damals“. Andererseits ist es aber auch leichter geworden. Wegen Vernetzung und besserer Kommunikationsbedingungen. Aber dazu ein ander Mal.

    Heute wird gebraucht:
    1. selbständig denken und entscheiden können (das schließt das Dürfen ein!)
    – also Problemlösendes Denken ist übergeordnet. Systematisches Fachwissen ist bloß noch Hilfskram. Aber wichtiger. Das Systematische ist dem Problemorientierten untergeordnet und wird sozusagen episodisch, d.h. wenn es gebraucht wird auf dem jeweiligen Stand der Problembearbeitung kontextbezogen und -abgeleitet gelernt.
    Es ist deswegen so wichtig und die Nr. 1, weil nur, wenn die Vielen anfangen, nicht mehr unhinterfragt Dinge für gegeben und selbstverständlich zu halten („weil es halt immer so war, weiß doch jeder!“), die Möglichkeit besteht, die Probleme r a d i k a l , dh. an die Wurzel (Ursachen) gehend zu bearbeiten.
    Kant,Humboldt et al. haben die Denke und das Handeln begründet für die bürgerliche Gesellschaft/Industriegesellschaft/Demokratie für die Wenigen (Eigentümer)
    Wir heute müssen eine Denke und das Handeln begründen für die Weltgesellschaft/Postwachstumsgesellschaft/Demokratie für Alle
    2. historisch denken können (und zwar nach allen Regeln der Kunst) – das schließt das Verstehen, dass alles, was gedacht wird, positionalisiert gedacht wird, ein.
    3. wissenschaftlich (=kritisch) denken können
    4. systemisch (und systemtheoretisch) denken können
    5. mit Anderen – auch mit völlig Fremden und aus unbekannten Kulturen stammenden – kommunizieren, kollaborieren, kooperieren können.
    (No way für Humboldt, Kant oder Montessori)
    Das heißt: Ich muss gewohnt sein, das, was man vllt unter Internationalismus oder Kosmopolitismus heute verstehen muss, in der Alltagspraxis zu tun. Und gut zu tun. (Das ist einer der Hauptgründe dafür, warum jede Form des Nationalismus unzeitgemäß ist, jede.)
    Dafür gibt es zwei Gründe: a) es wird immer enger auf der Kugel. b) wir kriegen die Kugel und ihre darauf lebenden Wesen (inkl. uns selbst) nur vor der Ausrottung geschützt, wenn wir zusammenarbeiten können. Das zu lernen, kann auch mit Instagram beginnen – why not. Aber das Ziel und die Begründung bedingen die Art und Weise, wie damit „gearbeitet“ wird.

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  2. D.S. Beitragsautor

    Danke für die Replik, die mir noch einiges zu denken geben wird. Da ich dringend noch meinen Unterricht für morgen vorbereiten muss, nur ein kurze Rückmeldung:

    Ich teile die von Dir geäußerten Gedanken in großen Teilen. Ich glaube, dass sie meiner Haltung nicht widersprechen, sondern sie eher ergänzen und stützen. Der von Dir geäußerte Widerspruch entsteht aus meiner Sicht, durch eine falsche Interpretation der von mir genutzten Begriffe „zeitlos“ und „unzeitgemäß“. Das liegt wahrscheinlich an der Kürze meines Beitrages und der Tatsache, dass ich den Begriff womöglich nicht genau genug ausgebreitet habe, weil er mir durch die Auseinandersetzung mit Nietzsche zu schnell über die Lippen geht. Ich versuche diese jetzt noch einmal zu schärfen.

    Nietzsche setzt sich in „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ genau mit der Frage auseinander: Was können uns die Klassiker (als Altphilologe beschäftigt er sich vor allem mit den Griechen) heute noch sagen? Ihm war dabei ganz wichtig, dass das Wissen nicht als „unverdaute Wissensteine“ im Magen rumpelt, sondern, dass Menschen es sich sie zu eigen macht, damit es ihnen im Jetzt beim Leben helfen kann. Es geht also darum, dieses kulturelle Erbe daraufhin zu befragen, was heute und in Zukunft noch Bedeutung für Menschen hat, um wie Du es sagst, die „Gegenwart zu bauen“. Das meine ich mit Zeitlosigkeit.

    Das gleiche gilt auch für die Bildungsklassiker und ihre Bedeutung für die Bildung heute: Wie Du sagst wäre es wenig hilfreich, die Theorien von Kant, Humboldt und Co. 1:1 auf das Heute zu übertragen – sicherlich gibt es auch Aspekte die dringend über Bord geworfen werden müssen. Dass sich bestimmte Gedanken aber heute noch bewähren – einige davon habe ich ja exemplarisch aufgeführt – legt nahe, dass sich darin überzeitlich gültige Wahrheiten finden lassen. Diese können uns historisch-kritisch ausgelegt dabei helfen, über Bildung unter den von Dir beschriebenen komplexen Bedingungen der Gegenwart nachzudenken. Und sie können uns davor bewahren allzu schnell einem unreflektierten Zeitgeist zu folgen, der die Perspektive auf das Jetzt verengt. Insofern sind diese Gedanken „unzeitgemäß“.

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    1. Carsten Roeger

      Eine Differenz die man hier ziehen könnte, ist dass das Gegenteil von „zeitgemäße Bildung“ schlicht „nicht zeitgemäße Bildung“ ist. „Zeitgemäße Bildung“ wären Bildungsprozesse im unreflektierten Dienst eines vermeintlichen Zeitgeistes, „nicht zeitgemäße Bildung“ die Beschäftigung mit Themen, die den Schülerinnen und Schülern weder nützen noch helfen sich selbst besser zu verstehen oder in der Welt zu orientieren.

      Davon zu unterscheiden ist „unzeitgemäße Bildung“, die eine Kritik des Zeitgeistes, der Lebenswelt und des eigenen Selbstverständnisses ermöglicht. Unzeitgemäße Bildung steht quasi quer zur „zeitgemäßen Bildung“ und zur „nicht zeitgemäßen Bildung“.

      Ich stimme zu, dass die Auseinandersetzung mit Bildungsklassikern hilft, zeitgemäße Verkürzungen dessen, was Bildung sein kann, kritisch zu reflektieren, um in der pädagogischen Praxis danach zu handeln, insofern sie den Horizont erweitern. Diese kritische Auseinandersetzung auch hinsichtlich ihrer Relevanz für die Praxis hat z.B. Ursula Frost auf einer GEW Tagung getan, nachzulesen hier:

      http://www.gew-hessen.de/fileadmin/user_upload/themen/marburger_bildungsaufruf/K_Frost_Ursula_Bildung_ist_auch_Widerstand.pdf

      Unzeitgemäße Bildung bedeutet hier vor allem Widerstand und nicht Anpassung, eine Charakteristik von Bildung, die sich auch bei Kant (als Widerstand der Autonomie gegen Fremdbestimmung), Humboldt (als Widerstand der Entfaltung der ganzen Person gegenüber Verzweckung) oder Platon (als Widerstand der Wahrheitsfrage gegenüber bloßen Meinungen) findet. Gerade diese Bedeutung von Bildung als Widerstand, scheint mir entscheidend zu sein, wenn man sich kritisch mit „digitaler Bildung“, „zeitgemäßer Bildung“ oder „4K“ auseinandersetzt — ist Bildung hier noch widerständig oder sind Bildungsprozesse nur noch Anpassung an vermeintlich gegenwärtige oder zukünftige von außengesetzte Ansprüche?

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  3. Axel Krommer

    Vielen Dank für den wirklich sehr guten Text! Ich hatte bei der Überschrift schon die Nietzsche-Assoziation und freute mich, dass Du ihn explizit aufgreifst.

    Ich vermute, dass ein zeitgemäßes Verständnis dessen, was Nietzsche mit „Unzeitgemäßem“ meinte, die inhaltlichen Differenzen zwischen den skizzierten Positionen („digital“, „zeitgemäß“, „unzeitgemäß“) weitgehend nivelliert. Mir scheint hier die Suche nach einem brauchbaren Hashtag zum Teil die Tatsache zu überlagern, dass sich wahrscheinlich alle an der Debatte Beteiligten darauf verständigen könnten, dass es um Bildung unter den Bedingungen der Digitalität (sensu Stalder) geht.

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  4. Lisa Rosa

    Ich insistiere vor vorschnellem Einverstandensein:
    Kant und auch Nietzsche et al v e r ä n d e r n sich als Ganzes mit ihrer Historisierung. Nicht nur bits and pieces. Dies behält man, dies verwirft man.
    Die systemtheoretische Denke (Komplexität) ist eben etwas ganz anderes als „Ganzheitliches Denken“ verstanden als mit Kopf, Herz, Hand. Sie bezieht sich auf ein neues Verständnis von Welt. ich gucke unter dem Aspekt der Digitalität drauf und sehe es so. Ich gucke unter dem Aspekt des Klimawandels drauf, und finde etwas anderes. Es ist eine neue Form Widersprüche zu prozessieren, das Ganze nicht als Summe der Teile (Kopf, Herz und Hand) zu verstehen, sondern als Einheit der Differenz.
    Inwiefern da vor- und moderne Philosophen und Bildungstheoretiker zum Verständnis nützlich sind, ist eine spezielle Frage. Aber nicht die Hauptfrage.
    Ich kann den Spieß auch umdrehen:
    Ich suche kein recycleten oder modernisierten Kant, Humboldt, Montessori., Dewey. Ich beschäftige mich vornehmlich mit dem, was mir meine Zeit gegeben hat, und zwar über diese guten Männer und Frauen hinaus. Wenn dann zusätzlich auch die Alten mal herbeigeholt werden können und Zeit und Muße ist: OK. Aber zur Begründung dafür, dass ich nicht einem verzweckenden kurzattmigen „Zeitgeist“ verfallen muss, brauche ich sie keineswegs. Gegen die Verzweckung hilft mir vielmehr Horkheimer („Kritik der instrumentellen Vernunft“). Für ein angemessenes Verstehen von Holistik ist Montessori eigentlich eher hinderlich. Kann aber wenn historisiert gebraucht werden.
    usw – you see: Das Problem ist auch die vorschnelle Zustimmung und Illusion, man meinte „eigentlich“ dasselbe. Die Differenz macht die Differenz.

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    1. D.S. Beitragsautor

      Ich sage ja nicht: Wir sollten uns beim Nachdenken über digitale Bildung nur an Klassikern orientieren. Ich sage nur: Wir müssen nicht Bildung komplett neu erfinden, weil die Welt digital wird. Es gibt bereits durchdachte Aspekte der Bildung, die auch in einer digitalen Welt ihre Gültigkeit behalten. Weil der Mensch auch in der digitalen Welt Mensch bleibt.
      Theorien sind für mich wie Sehhilfen, die mir dabei helfen, die aktuelle Welt besser zu verstehen. Wichtig ist dabei, die richtige Theorie-Brille zur richtigen Zeit aufzusetzen: Du greifst doch zum Beispiel in Deinem Kommentar auch auf Horkheimer zurück. Natürlich muss einem immer klar sein, dass solche Sehhilfen das Bild verzerren können und es manchmal sinnvoll ist, frei von Theorien auf die Welt zu blicken. Da gebe ich Dir wieder einmal recht.
      PS: Genauso problematisch wie vorschnelle Zustimmung kann es sein, Differenzen zu postulieren, wo eigentlich vor allem Einigkeit herrscht.

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      1. Lisa Rosa

        Nicht „Einigkeit oder Differenz“ „herrscht vor allem“. Sondern bitte beides. Ich (mit meiner Perspektive) lege eben Wert auf die Unterscheidung in dieser Sache. Ich halte sie für wichtig und betone sie.Ü
        Über das, was uns verbindet, könnten wir auch sprechen, aber das wäre langweilig und würde niemanden, der es liest („Finde ich auch!!!“) irgendwie weiterbringen.
        Nur der Dissens bietet Diskussionsablässe und immer genauere Argumentationen und Erklärungen. Ist für mich notwendiger und zentraler Bestandteil für Lernprozesse. K wie Konsens ist mE nicht in den 4K drin

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        1. D.S. Beitragsautor

          Ein zumindest vorläufiger Konsens ist doch für ein Fortschreiten der Erkenntnis unerlässlich:
          a) Konsens nach einem Disput ist zumindest ein Indiz dafür, dass man zumindest in Teilen der Wahrheit näher gekommen ist. Umso wichtiger ist es klarzustellen, in welchen Aspekten weiter Unterschiede und worin bereits Einigkeit besteht,
          b) Für Zuhörer ist ein intelligenter Konsens der zuvor gegensätzliche Positionen vereinbart oft mindestens genauso interessant wie Dissens.
          c) Wie ohne die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Konsens Deine beiden K Kommunikation und Kollaboration funktionieren sollen, kann ich mir schwer vorstellen.

          Antworten
          1. Lisa Rosa

            Ich bin vor allem für die notwendige Langsamkeit. Zum Beispiel, um genau zu lesen und zu verstehen. ich hatte geschrieben: ich bin gegen VORSCHNELLE Einigkeit. Und im zweiten Kommentar hatte ich geschrieben, Ich bin nicht für entweder/oder, sondern für BEIDES.
            Nun ist es so, dass eine vorschnelle, FALSCHE Einigkeit oft daraus entsteht, dass nicht genügend Zeit genommen wurde, für das Verstehen der Differenz. Denn auf die kommt es an, wenn etwas zu Lernen sein soll. Und nur, wenn man sie verstanden hat – anstatt sie vorschnell zu negieren – kann man einen ECHTE Konsens überhaupt erst gemeinsam erarbeiten. GEMEINSAM. Dabei muss man alle mitnehmen, denn die Differenzen müssen ja darin aufgehoben sein. Das kann ich im Prozess dieser Diskussion noch nicht sehen.
            Habe ich recht verstanden, dass du mir die Fähigkeit und Bereitschaft zum Konsens absprechen möchtest? Wenn ja, dann wäre ich ja von vorneherein aus der Konsenskonstruktion ausgeschlossen. DAS fände ich nicht demokratiksch/nicht kollaborativ. Aber hoffentlich habe ich dich nur in meiner Angst falsch verstanden.

          2. D.S. Beitragsautor

            Nein, das hast Du falsch verstanden. Ich habe Dir an keiner Stelle irgendetwas unterstellt oder abgesprochen. Du hast in Deinem Kommentar vorher die Vorzüge des Dissens betont. Ich habe daraufhin lediglich die Vorzüge des Konsenses begründet. Mehr lese ich da nicht. Ich kann da auch keine persönliche Ansprache erkennen. Von „Deinen K“ habe ich lediglich gesprochen, weil Du vorher auf sie referenziert hast mit dem Hinweis, Konsens wäre da nicht dabei.

  5. Bob Blume

    Einen schönen guten Tag!

    Da du ja netter Weise auf Twitter schon gespannt nach meiner Replik gefragt hast, hier meine 2 Cent. Und zwar wirklich nur als kleine Impulse.

    Zum einen schließe ich mich deinen Hauptgedanken gerade in Bezug auf die Ökonomisierung an. Ich finde auch das, was andere als Haarspalterei verurteilen, wichtig. Sowohl die eine als auch die andere Bezeichnung finde ich dennoch problematisch, obwohl ich auch weiß, was du mit dem Antonym meinst.

    Ich verweise mittlerweile auch auf die „zeitgemäße Bildung“, obwohl sie mir Bauchschmerzen bereitet, und zwar insbesondere in ihrer Exklusivität, die, wie ich finde, teilweise auch als arrogante Besserwisserei in unserer Community ihre Artikulation findet. Zeitgemäß ist das, was wir sagen, was Bildung sein muss. Der, der das nicht ist, ist nicht zeitgemäß und, wie Lisa Rosa sagt, anachronistisch. Das gefällt mir nicht.

    Überhaupt habe ich immer dann ein Problem, wenn ich das Gefühl habe, dass wir, die „digitale Community“, die so nett und oft miteinander ins Gespräch kommt aber eigentlich eine Insel ist, von sich auf andere schließt (nicht, das wir uns falsch verstehen: miteinander über mehr zu reden als über Apps ist großartig). Damit meine ich: Nur weil die meisten von uns, zwischen 30 und 50, belesen in einem größeren oder kleineren Bereich, Bücher UND das Netz nutzen können, ist es naiv zu denken, dass Schüler das auch können.

    Selbstermächtigung ist keine Willkür. Und das lese ich immer wieder heraus (besonders aus Repliken).

    Um deutlicher zu werden: Dort, wo kein Kontext ist, nützt der Zugang zu Wissen nicht, weil er nicht – klar – kontextuiert werden kann. Das, was also hier in den Kommentaren als anachronistischer Zugang verworfen wird, hat in mir einen Befürworter. Ich bin für die Nutzung von Handys im Unterricht UND dafür, dass Schüler Daten auswendig lernen müssen. Ich bin dafür, dass man sich „in die Welt liest“, aber eben auch die aus der (sich wandelnden, na klar!) Kultur hervorgegangenen Erzeugnisse liest und sich mit ihnen beschäftigt.

    Ja, ich bin für das Primat Goethe und dann erst Kazuo Ishiguro.

    Und ich bin für Zwang (ich hoffe, man merkt, wie ich versuche zuzuspitzen, um mich nicht in einer endlosen Paraphrase um mich selbst zu drehen). Ich bin dafür, dass man normative Inhalte hat. Ich bin dafür Schüler zu zwingen, zu partizipieren. Ich bin dafür, Aufklärung zu ermöglichen, indem das gelesen wird, das nicht gelesen würde, obwohl wir gerne so tun, als strebe jeder junge Mensch dieser Gesellschaft danach, das Weltwissen in sich auszusaugen.

    Insofern sehe ich in dem, was du unzeitgemäße oder eben überzeitliche Bildung nennst, ein erstrebenswertes Ziel. Und ich finde nicht, dass jeder Mensch zum Kosmopolit umerzogen werden muss, sondern in kleinen Kreisen das Erschließen der Welt zunächst mittels Hilfe von Menschen, Quellen und Literatur erfahren lernen darf.

    Kritisches Denken ist kein Selbstzweck. Wer dekonstruieren will, muss die Konstruktion kennen.

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    1. Lisa Rosa

      Weil du mich erwähnt hast, möchte ich ein paar Fragen stellen und meinerseits ein paar Dinge geraderücken.
      1. Was meinst du mit Community? Und wer ist da Mitglied? Und woran ist das zu erkennen?
      Ich bin nicht MItglied irgendeiner sogenannten von außen bezeichneten oder selbst ernannten Community. Da lege ich großen Wert drauf. Wenn ich etwas sage/schreibe, dann sage/schreibe ich, als Person, als Individuum das, was ich für richtig halte. Ich bin kein Sprecher irgendeiner Gruppe oder „Community“ oder eines sozialen Systems, einer Organisation. Ich kann noch nicht mal für meine Familie sprechen.
      Bloß, weil ich Twitter u.a. Medienformen benutze, macht mich das zu keinem Mitglied von irgendetwas, das jemand für mich definiert. Ich bin übrigens diejenige, die Vorträge zum „digitalen Lernen“ hält, wo – wenn überhaupt – nur ganz am Rande etwas über digitale Devices und tools die Rede ist, sondern in erster Linie über Wissen, Lernen und Lehren. Ich wäre also – wenn überhaupt – eher Mitglied einer kulturwissenschaftlichen oder erziehungswissenschaftlichen „Community“ als einer „digitalen“ Community. Und sind wir beide in derselben Community, wenn wir uns gegenseitig folgen, vulgo beobachten, was wir sagen und schreiben? Ich bin auch gegen das vorschnelle „Wir“, wie du siehst.
      2. Wirfst du mir Arroganz, Besserwisserei vor? ich lese das hieraus:
      „arrogante Besserwisserei in unserer Community ihre Artikulation findet. Zeitgemäß ist das, was wir sagen, was Bildung sein muss. Der, der das nicht ist, ist nicht zeitgemäß und, wie Lisa Rosa sagt, anachronistisch.“
      Das weise ich zurück. Ich sage – nicht anders als du – was ich denke. Und was ich denke, darf ich selbst bestimmen. Auch wie ich es sage. Dass die Reichweite meiner Aussagen das Gesellschaftliche als Ganzes betreffen (statt nur den eigenen Unterricht), oder dass ich ausdrücklich Ansichten äußere, die ich für objektivierbar halte – ganz ausdrücklich -, und mich nicht auf ein bloß subjektivistisches Meinen zurückhalte – das ist nicht arrogant, sondern eine Möglichkeit, Auffassungen über die Welt zu äußern. Und ich finde nun ganz subjektiv, dass ich, was ich sage, immer ganz ordentlich begründe und – vielen viel zu viel und zu oft – auf Literatur verweise, die meine Auffassungen stützt. Das bedeutet überhaupt nicht, dass du mir zustimmen musst. Wie gesagt: Ich habe kein Problem mit der Differenz.
      Aber den Vorwurf der Arroganz müsste man doch anders begründen, als damit, dass jemand Begründete Behauptungen und Urteile mit Geltung ausspricht. Meiner subjektiven Meinung nach ist Arroganz eine herablassende Haltung, die v.a. im sprachlichen Ausdruck, im Ton und in der Körperhaltung und Gestik zu begründen wäre. Da Körperlichkeit (Ton, Gestik) hier nicht zu haben ist, bleibt der sprachliche Ausdruck. Wo ist da bei mir Arroganz?

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      1. Bob Blume

        Bevor ich dir antworte, direkt etwas vorangestellt: In einem Podcast redet Sam Harris unter anderem darüber, welche Probleme Schriftsprache in der Kommunikation mit „Unbekannten“ mit sich bringt. Von daher: Ich würde wirklich gerne mal persönlich mit dir sprechen. Vielleicht schaffen wir das ja mal.

        Zum anderen: Ich bemerke, dass ich nicht mehr frei spreche, was natürlich mein Problem ist. Anstatt in eine Diskussion einzusteigen, relativiere ich hier, relativiere da, damit sich ja niemand angegriffen fühlt (siehe der letzte Artikel zum Thema Lesen). Und selbst dann wird das, was ich sage, genau dafür kritisiert. Warum tue ich das? Ich tue das, damit wir Personen von Inhalten trennen. Schwierig.

        Eine meiner bewussten „Strategien“ in Bezug auf meine Heile-Welt-Relativierung, ist es, mich selbst in die Kritik einzuschließen. Denn ich glaube nicht daran, dass das, was ich zu einem Thema sage, unfehlbar ist. Ich arbeite hart daran, mich in puncto Sachlichkeit und Nüchternheit zu verbessern, aber es gelingt nicht immer. Dies als Vorwort.

        Deine Frage zu dem, was ich als Community benenne, beantwortest du für sich selbst. Insofern: Für mich wäre es in der Tat eine Community gewesen, die sich aufgrund von Plattform, Diskussionskultur und Wille gesellschaftlicher Veränderung konstituiert (ohne freilich immer ein und dasselbe zu wollen). Vor nicht allzu langer Zeit wurde diese Community noch durch die Verwendung eines Hashtags zusammengehalten. Wenn du dich nicht als Teil einer Community siehst, ist das deine Entscheidung.

        Das beantwortet auch deine zweite Frage. Nein, ich werfe dir persönlich keine Arroganz vor. Ich werfe sie einer Community vor, zu der du dich nicht zählst. Vielleicht würden auch alle anderen aus der Community sagen, dass sie nicht arrogant sind oder sein wollen. Ich meine nur in Gesprächen, die wir führen, zu bemerken, dass jene, die Bildung nicht so denken wie wir – wenn ich den Plural nutzen darf – belächelt werden oder eben als konservativ abgestempelt werden. Ich war, nebenbei, auch angefasst, als du mir damals reaktionäres Gedankengut vorwarfst. Davon abgesehen: Ich erkenne bei vielen, die in dem digitalen/ zeitgemäßen oder was-auch-immer Diskurs online miteinander sprechen, oftmals nicht den Wunsch, andere Meinungen zuzulassen.

        Insofern: Ich finde dich nicht arrogant, sondern ein von mir konstruiertes „Uns“, als dessen Teil du dich nicht siehst.

        In Bezug auf die Sache bin ich immer willens und bereit, zu sprechen, nehme gerne Impulse auf und nutze Begriffe. Dein Kulturzugangsgerät dürfte mittlerweile jeder kennen, mit dem ich über digitale Bildung geredet habe.

        Was mir aber oftmals fehlt, ist der Wille, Verständnis gegenüber jenen zu äußern, die „noch nicht so weit sind.“ Das mag auch daran liegen, dass ein Experte, dessen Namen ich nun nicht nenne, um ihn nicht auch noch in diese eher megakommunikative Debatte hereinzuziehen, mir einmal sagte, er habe keine Lust mehr, sich ständig mit denen auseinanderzusetzen, die vor lauter Kritik die Entwicklung behindern. Das kann ich nachvollziehen.

        Dennoch bemerke ich einen Graben zwischen dem, was ich Community nannte und jenen Lehrerinnen und Lehrern, die keine Ahnung haben, dass Twitter als Austauschform überhaupt existiert. Und die kann man nur mitnehmen, wenn man zuhört.

        Ich hoffe, dass dies nun nicht missverständlich oder provozierend ist. Lass mich dir sagen, dass dies der Versuch ist, meine Sicht verständlich zu machen.

        In dem Sinne: Liebe Grüße
        Bob

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        1. Lisa Rosa

          Lieber Bob,

          gerne treffe ich dich bei Gelegenheit f2f zum Gespräch. Ich bin in HH, wo bist du?
          Ich habe niemanden angegriffen, d.h. ich wollte es nicht, wieso sollte ich auch? Wenn du dich angegriffen fühlst, tut es mir leid. Es ist dann eines dieser immerzu in Kommunikationen vorkommenden Ereignisse, die auch auf Missverständnissen bzw. unerfüllten Erwartungen beruhen können. Hier wäre es das.
          Ich gebe dir Recht: Unfehlbarkeit gibt es nirgends und für niemanden. Worauf beziehst du dich?
          Nochmal zur Community: Gemeinschaft ist ein schwieriges Wort. Es passt definitiv nicht zu Netzwerken. Ja klar, wir Menschen nehmen während unseres ganzes Lebens Teil an kurz-, mittel-, langfristigen sozialen Systemen verschiedenster Formen und verschieden enger Bindungsnotwendigkeit. Wir bauen solche Systeme, nehmen teil, verlassen sie wieder oder beenden sie ganz (Wenn keiner mehr teilnimmt, verschwindet das System). Ich könnte tatsächlich nicht mal die Anzahl an solchen Systemen nennen, an denen ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf ihrgendeine Weise teilnehme. Im Netz sind die meisten solcher Systeme ja gerade auf Netzwerkbasis gegründet, d.h. sie sind eher lose gekoppelte und dadurch sich ständig in der Mitgliederschaft ändernde und oft kurzfristige Dinger, die außerdem meist ausschließlich auf Kommunikationen beruhen und keineswegs auf persönlichen Bindungen. Letzere kann es dabei natürlich geben (die Teilnehmenden sind ja Menschen). Muss aber nicht. Sie sind keineswegs eine wichtige Begleiterscheinung und schon gar keine Voraussetzung. Bei mir ist die Betonung immer auf nicht, weil es die eigentliche Funktion dieser Netzwerke für mich erleichtert iund verbessert: Diskussionen über Sachen, die mich – und hoffentlich auch die Anderen in diesen sozialen Systemen – interessieren. Ich habe keine Kontrolle darüber, wer teilnimmt, wann er teilnimmt, mit welcher Aussage er teilnimmt, wie er die Aussagen Anderer versteht und beantwortet, usw. Wie Kommunikation halt funktioniert. Ich habe nur Kontrolle über meine eigenen Äußerungen. Noch mit jedem der Knoten in diesen Netzwerken, die mit mir als Knoten durch Kommunikationen verknüpft sind – solange die Kommunikation dauert – habe ich sachliche Differenzen, die ich austragen möchte, um zu lernen. Das ist die Funktion dieser Netzwerke für mich. Für andere mag sie andere Funktionen haben, die dann seine Art der Teilnahme und seine Aussagen bedingen. Jeder Jeck ist anders. Aber es gibt auch gewünschte Funktionen/Erwartungen, die sich nicht gut mit netzwerkartigen sozialen Systemen vertragen. Da klappert es dann.

          Über Arroganz: Du darfst mich gerne für arrogant halten, du wärst ja auch nicht der erste. Aber ich lasse es mir nicht „vorwerfen“, denn auch ich habe a) ein Recht darauf, arrogant zu sein (Vorwurf ist ja eher: „Man darf so nicht sein“) und b) die Möglichkeit, es für deine Fehleinschätzung zu halten. Und hier ist wieder der Punkt: Ich finde es einfach besser, wenn man nicht über (vermeintliche) Charaktereigenschaften von Personen oder gar von einer ganzen Gruppe von Personen spricht, sondern den Fokus des Gesprächs auf die Sachen legt. Es würde in meinen Augen – wenn ich deine Mitteilung richtig verstanden habe – dann um die Frage gehen: Wie kann man besser anschließen an das, was die „normalen“ Lehrer im Kopf und auf ihrem Arbeitsplatz haben? – Das wäre dann eine Sachfrage insofern, als es eine strategische (und eben keine moralische, persönliche, normative) Angelegenheit, die sich besser und wie ich finde zielführender klären lässt. Dazu:
          Ich, Du, Andere tun Dinge, die wieder Andere nicht tun, ja vllt nicht einmal kennen. So what? An der Schnittstelle, Kollegen Twitter als Austauschmöglichkeit zu zeigen, arbeite ich nie „generell“, sondern dann, wenn „es passt“ , sich ergibt, es nachgefragt wird.

          Und klar: Die Teilnahmen an Kommunikationen setzt Zuhören voraus. Was möchtest du mit dieser Information mitteilen? Dass „unsere Community“ den „anderen Lehrern“ nicht zuhört? Kann das so pauschal funktionieren? Zuhören kann doch nur der Einzelne, nicht das soziale System, nicht die Kommunikation.
          Ich hoffe, ich habe dir richtig zugehört (so wie du zugehört werden möchtest) und dann auch noch richtig verstanden (so wie du verstanden werden wolltest).
          Und nein, ich fühle mich weder persönlich angegriffen, noch provoziert (im schlechten Sinn) noch sonst irgendwas persönliches. Ich hoffe auch sehr, dass du dich meiner Antwort nicht persönlich angegriffen fühlst – wohl aber zum Nachdenken animiert bist, denn tatsächlich habe ich andere Vorstellungen zur Sache präsentiert als du sie hast, wenn du so willst, also deine Vorstellungen von der Sache „angegriffen“. Das hoffe ich allerdings immer, wenn ich im Netz spreche, sonst macht für mich das Sprechen gar keinen Sinn. Und es gibt gleichzeitig keinen Grund/macht für mich keinen Sinn, an Kommunikationen teilzunehmen, wo man sich persönlich angreift.
          Wünschen tu ich mir, dass du meine Äußerungen verstehst, so wie ich meine, sie zu verstehen. Erwarten tu ich’s nicht. Macht aber nix.
          LG, Lisa

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