Selbständiges Lernen: Selbstgesteuert ist nicht autonom

In der Schule sollen Jugendliche zur Selbständigkeit erzogen werden – auch beim Lernen. Es macht aber einen großen Unterschied, ob Schüler selbstgesteuert oder autonom lernen. Was wie Wortklauberei klingt, ist in Wahrheit die Wahl zwischen zwei Lernkulturen. Von Carsten Roeger
Im Gespräch mit Kollegen diskutierten wir vor einer Weile bei einem Treffen zur Schulentwicklung, wie wir freie Lernzeiten und Fachunterricht besser verknüpfen könnten, damit die Schüler selbstbestimmt lernen. Irgendwann stellte sich mir die Frage: Was war hier eigentlich mit selbstbestimmt gemeint: das autonome Lernen, das selbstständige Lernen oder das selbstgesteuerte Lernen? Alle drei Begriffe fielen und dem Wortgebrauch nach schien man das selbe zu meinen. Hörte man aber genauer hin,  beschrieben die Lehrkräfte verschiedene Unterrichtskonzepte, die unmöglich allen drei Begriffen gerecht werden konnten.

Begriffsklärung ist eine Voraussetzung für pädagogische Konzepte

Es ist sinnvoll die Unterschiede zwischen den Begriffe genauer zu klären, um sich bewusst zu machen, welches pädagogische Konzept und welchen Anspruch man damit vertritt und auch welcher Lerntyp im real existierenden Schulsystem strukturell überhaupt gefördert wird bzw. gefördert werden kann. Letzteres ist vor allem auch deswegen relevant, damit man sich als Lehrer nicht zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufreibt.

Moderne reformorientierte Gymnasien geben dem selbstständigen Lernen viel Raum, sei es durch Projektarbeit, freie Lernzeiten oder Wochenplanarbeit. Sympathisch ist dieser Ansatz, weil er nach Autonomie und damit nach Erziehung zur Mündigkeit klingt und ein Gegenbegriff zur Heteronomie ist, zur Fremdsteuerung durch den Lehrer.  Die Hoffnung: Wenn Schüler selber die Verantworung für ihr Lernen übernehmen, entwickeln sie automatisch auch Kompetenzen, die sie für ein selbständiges Leben brauchen.

Was aber bedeutet „selbstständiges lernen“? Selbständiges Lernen kann auf zwei Arten des Lernens verweisen, die beide selbstständig verlaufen, erstens selbstgesteuertes Lernen oder zweitens autonomes Lernen. Die Begriffe sind zwar verwandt – genau genommen stehen sie aber für unterschiedliche Freiheitsgerade, aus denen unterschiedliche Lernkulturen resultieren.

Selbstgesteuertes Lernen: Der Schüler als Heizungs-Thermostat

Selbststeuerung ist ein Begriff der kybernetischen Didaktik, den man am Beispiel eines Heizungsthermostat erklären kann. Stelle ich mein Thermostat auf 20 °C, so wird die aktuelle Temperatur (Ist-Wert) gemessen und mit dem von mir vorgegebenen Wert verglichen (Soll-Wert). Dann wird die Raumtemperatur solange immer wieder erhöht oder abgesenkt, bis der Soll-Wert erreicht wird.

Dieses kybernetische Konzept soll auch der selbstgesteuerte Lerner verinnerlichen, nur das statt der Temperatur Kompetenzen gemessen werden. Dieses Konzept passt gut zu den Anforderungen der Lehrpläne, in denen ein verbindlicher, messbarer Output definiert wird. Die darin festgehaltenen standardisierten Kompetenzziele können Lehrer jedem Schüler schon zu Beginn der Unterrichtsreihe nennen. Der erfolgreiche selbstgesteuerte Lerner erarbeitet sich diese dann in einer geeigneten Lernumgebung selbstständig und weist seinen Lernerfolg in einer Klausur nach.

In dieser Konzeption ist die Selbststeuerung nur eine andere Form der Fremdsteuerung. Schüler internalisieren diese Fremdsteuerung, den steten Abgleich mit den von außen vorgegeben Zielen und Anpassung des eigenen Verhaltens. Als Lehrer diese Kontrolle und Aufforderung zur Verhaltensänderung noch übernommen haben, war die Fremdsteuerung ausgelagert, nun wird sie in den Schüler hinein verlagert. Der selbstgesteuerte Lerner ist also kein wirklich selbstständiger Lerner.

Autonomes Lernen: Schüler stecken sich eigene Lernziele

Unter dem selbstständigen Lerner stelle ich mir jemanden vor, der sich seine Ziele selbst steckt und sich mit einer fachlichen Thematik auseinandersetzt, die ihn selbst interessiert. Einen Lerner, der neugierig auf die Welt ist, von denen innerhalb der Fächer immer ein Ausschnitt repräsentiert wird, und sich mit ihr auseinandersetzt, ohne bereits zu wissen, was raus kommt oder was es nützt. So könnte man sich autonomes Lernen vorstellen- Autonomie ist zwar nicht im vollen Sinne der Selbstgesetzgebung verwirklicht, aber doch im Stecken von eigenen Lernzielen.

Autonomes Lernen beinhaltet natürlich selbstgesteuertes Lernen, denn auch beim autonomen Lernen müssen methodisches Fertigkeiten und Fachwissen berücksichtigt werden, damit der Lernprozess nicht beliebig wird oder um zu der Einsicht zu gelangen, welche den Schüler neugierig gemacht hat. Allerdings werden die Soll-Werte der Selbststeuerung vom autonomen Lerner selbst gesetzt. Das Konzept des autonomen Lernens ist also viel weiter als das Konzept des selbstgesteuerten Lernens.

Im real existierenden Schulsystem hängt es nun davon ab, wie viele externe Vorgaben Schüler durch Lehrpläne oder standardisierten Leistungsüberprüfungen ausgesetzt sind, ob sie tatsächlich autonom lernen und dabei eine Idee von Mündigkeit erfahren. Solange Lehrpläne die Freiheit der Lehrer und Schüler so stark wie derzeit einschränken, ist in unserem System nur selbsgesteuertes Lernen im Sinne einer Thermostat-Didaktik möglich.

Für eine ausführliche Kritik des selbstgesteuerten Lernens im Kontext der sogenannten „Neuen Lernkultur“ hinsichtlich seiner humanistischen Defizite vergleiche:

Zum Autoren: Carsten Roeger ist Lehrer an einem Gymnasium in NRW und bloggt auch selbst.

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Ein Gedanke zu „Selbständiges Lernen: Selbstgesteuert ist nicht autonom

  1. Matti

    Ich würde im Resümé noch einen Schritt weiter gehen. Solange junge Menschen gezwungen sind, in der Schule zu erscheinen, um dort zu Schülern degradiert zu werden, ist autonomes Lernen überhaupt nicht möglich.

    Schüler SOLLEN zur Selbstständigkeit erzogen werden. Das ist ein Widerspruch in sich. Entweder sie SIND selbständig, und sei es in ihrer Entwicklung zur Selbstständigkeit, oder sie sollen erzogen werden. Wenn man an ihnen herumzieht, können sie gar nicht selbstständig sein.

    Die Schule ist ein Herrschaftsinstrument der Regierenden und das war sie schon immer (abgesehen von den alten Griechen, die mit der Gründung von Schulen etwas ganz anderes beabsichtigten, als man das heute tut). Man verfolgt keine Bildungs- sondern Ausbildungsabsichten. „Die Wirtschaft“ braucht keine gebildeten und autonomen Menschen, sondern solche die ihr dienen. Ich wünschte mir auch, es wäre anders.

    Wer autonome Menschen will, muss den Schulzwang abschaffen und jede andere Form desselben. Er müsste die Gleichwürdigenkeit zwischen den Menschen anstreben, egal welchen Alters sie sind.

    Ich habe mal den sarkastischen Gedanken gelesen, man habe die Kinderrechte erfunden, weil die Menschrechte nicht für Kinder gelten. Kein Erwachsener käme auf die Idee, andere Erwachsene so zu behandeln, wie man junge Menschen in den Schulen behandelt.

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