Corona

Bildungsgerechtigkeit in Zeiten von Corona

Während der Schulschließung zeigt sich wie unter einem Brennglas, wie die soziale Herkunft das Lernen beeinflusst. Umso wichtiger ist bei der Planung von schulischen Strukturen und Lernsettings die Ungleichheit zu berücksichtigen. Was bedeutet das in Zeiten von Schulschließungen wegen der Corona-Pandemie? Ich versuche das Problem und mögliche Lösungen zu beschreiben.

Ich empfinde es in diesen Tagen der Schulschließung wegen der Corona-Pandemie als eine große Herausforderung, die Schüler*innen aus der Ferne zu begleiten. Die Lernkurve ist bei mir wie bei vielen anderen Lehrer*innen auch sehr steil. Eine positive Rolle spielt hier die Vernetzung mit anderen Kolleg*innen – insbesondere auch im Twitterlehrerzimmer. Hier werden viele Ideen geteilt, wie sich mit digitalen Mitteln spannende und interessante Lernsettings gestalten lassen.

In den letzten Wochen wurde ich dennoch ein ungutes Gefühl nicht los. Denn die Voraussetzung für das Lernen unter digitalen Bedingungen sind hoch. Schüler*innen brauchen zum Lernen zu Hause idealerweise einen ruhigen Arbeitsplatz, einen eigenen Computer mit einer stabilen Internet-Leitung, Eltern, die sie unterstützen, eine Schule mit digitaler Infrastruktur und medial kompetente Lehrkräfte. Das bedeutet leider: Die Chancen sind derzeit ungleicher verteilt denn je.

Diese Erkenntnis ist für mich umso bedrückender, weil ich als Lehrer an einem Gymnasium in einer gut situierten Kleinstadt im Alltag selten mit Ungleichheit konfrontiert werde. Es war für mich bislang leichter, sie übersehen – oder vielleicht auch die Augen davor zu verschließen.

Insofern hat die Lektüre des Buches „Mythos Bildung – Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft“ des Erziehungswissenschaftlers Aladin El-Mafaalani meine Perspektive in vielerlei Hinsicht erweitert. In diesem Werk beleuchtet der Autor die Auswirkungen der Ungleichheit auf Bildungssystem sehr strukturiert und nachvollziehbar.

Gleichtzeitig verdeutlich der Autor aber auch die Bedeutung der Bildung für den Umgang mit Ungleichheit:

„Nur durch das Bildungssystem, insbesondere die Schulen, können alle Menschen gleichermaßen erreicht werden. Daher ist die Forderung an das Bildungssystem, systematisch auf Ungleichheit einzuwirken und sozialer Benachteiligung entgegenzuwirken, berechtigt. Hier werden die Weichen für alle anderen Bereiche gelegt.“ (S.14f)

Es gilt daher zu jeder Zeit zu reflektieren, wie Schulpolitik, einzelne Schulen aber auch jede einzelne Lehrkraft der Herausforderung der Ungleichheit begegnen können. Wie oben angedeutet ist die Anforderung derzeit besonders drängend. An dieser Stelle möchte ich nicht den Inhalt des Buchs von El-Mafaalani zusammenfassen. Mir geht es darum darzustellen, welche Aspekte mir als Lehrer persönlich besonders wichtig erscheinen – insbesondere jetzt unter den Bedingungen der Schulschließungen zum Schutz vor dem Corona-Virus. Zudem versuche ich konkrete Ideen zu entwickeln, was derzeit getan werden kann. Seitenangaben in dem Artikel beziehen sich immer auf „Mythos Bildung“, zu dem sich ganz unten auch die bibliographischen Daten finden.

Ein kurzer Disclaimer: Weder bin ich Bildungsforscher noch Sozialarbeiter. Im Gegenteil: Wie oben beschrieben habe ich sehr großen Nachholbedarf bei diesem Thema. Dieser Artikel ist für mich öffentliches Nachdenken, das vielleicht den einen oder anderen zumindest für das Thema sensibilisieren kann. Ich freue mich sehr über weitere Ideen, Ergänzungen und Richtigstellungen von „Ungleichheits-Profis“ in den Kommentaren.

Was ist ungleichheitssensible Bildung?

Bildung als Mittel im Kampf gegen Ungleichheit ist keine neue Idee. In der Vergangenheit wurde vor allem versucht, der Ungleichheit durch Bildungsexpansion zu begegnen. Der Anteil der Schüler*innen, die Abitur machen und anschließend studieren, hat sich deutlich erhöht. Dies ändert aber nichts daran, dass es Bildungs-Verlierer gibt, die davon nicht profitieren. Die Ungleichheit ist geblieben.

Ein Grund dafür ist unter anderen laut El-Mafaalani ein verengtes Verständnis von Bildung. In der Vergangenheit wurde Bildung oft ihre Funktion im Hinblick auf die Wirtschaft reduziert. Bildung soll als Ausbildung die jungen Menschen fit für die Arbeitswelt und somit fürden sozialen Aufstieg machen. Dieser Auffassung wurde zumeist das Ideal einer humanistischen Bildung gegenüber gestellt, die die Entwicklung des Individuums in den Mittelpunkt rückt.

El-Mafaalani beschreibt eine dritte Form der Bildung, die sich am Habitus orientiert:

„Habitus ist ein Grundbegriff der Soziologie. Er beschreibt eine dauerhafte verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt, die Welt und sich selbst wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln. Diese Grundhaltung wird bereits früh im jeweiligen sozialen Umfeld eines Menschen – auch in der sozialen Schicht beziehungsweise im Milieu – ausgebildet und hilft ihm, sich darin zu orientieren. […] Der Habitus ist ein Muster, das bestimmt, wie sich die Aneignung von Welt und die Formung des Selbst vollzieht.“ (S.42f)

Bildungsinstitutionen haben laut El-Mafaalani im Hinblick auf den Habitus nun die Aufgabe, die durch Ungleichheit entstehenden negativen Herkunftseffekte zu berücksichtigen und wenn möglich abzuschwächen.

Gleichzeitig müssen Bildungspraktiker den Habitus aber auch als Ausgangsbedingung für das Lernen berücksichtigen. El-Mafaalani weist zum Beispiel darauf hin, dass der soziale Hintergrund die Voraussetzungen für und den Zugang zum Lernen maßgeblich verändern – so fällt es benachteiligten Kindern oft schwerer, Fragen zu stellen und Probleme anzusprechen. Und auch offene Lernformen können für sie eine besondere Herausforderung bedeuten (vgl. S. 136). Unterrichtsentwicklung muss deshalb in besonderem Maße nicht nur geschlechtersensibel oder sprachsensibel, sondern auch ungleichheitssensibel sein.

Ungleichheitssensible Didaktik

Ein solches Bildungsverständnis erfordert es zum Beispiel beim Planen von Aufgaben zu überdenken, inwiefern sie auch von benachteiligten Schüler*innen geleistet werden können. Es gibt hier keine eindeutigen Lösungen. Wie eine Reflexion aussehen kann, haben aber zum Beispiel Marcus von Amsberg und Thorsten Puderbach in einem veröffentlichten Schreibgespräch deutlich gemacht.

Dass eine solche Auseinandersetzung nottut, gilt nicht nur für den Unterricht, sondern auch für die Schulentwicklung insgesamt. So gehört es zum Beispiel bei der Arbeit an schulinternen Lehrplänen auch in jedem Fach dazu, zu reflektieren, inwiefern die Schüler*innen einer Schule von Ungleichheit betroffen sind und wie sich dieser begegnen lässt. Und in Zeiten von vollständigen oder teilweisen Schulschließung muss jede Schule prüfen, inwiefern benachteiligte Schüler*innen eine besondere Behandlung brauchen.

Benachteiligung hat verschiedene Facetten

Um als Schule oder als Lehrkraft der Ungleichheit adäquat begegnen zu können, ist es wichtig, die verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Ungleichheit genauer zu betrachten. Aladin El-Mafaalani verweist dabei unter anderem auf den französichen Sozioliogen Pierre Bourdieu (vgl. S. 26ff). Dieser hatte in seiner Klassentheorie verschiedene Formen des Kapitals unterschieden, die in einer Gesellschaft unterschiedlich verteilt sind. Neben dem ökonomischen Kapital – letztlich dem zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln, zählt dazu auch kulturelles Kapital, das El-Mafaalani auch als Bildungskapital bezeichnet. Soziales Kapital ist die Summer der Beziehungen, die Menschen pflegen. Schulen und Lehrkräfte müssen bei einer ungleichheitssensiblen Förderung alle drei Formen des Kapitals und die Folgen eines Mangels in den Blick nehmen.

Ungleichheit bei ökonomischem Kapital

Ein Mangel an ökonomischen Kapital kann sich in diesen Tagen in verschiedenenn Formen äußern. Zum einen wohnen Kinder aus ökonomisch schwachen Familien ggf. in kleineren Wohnungen. Es ist hier schwieriger, einen guten Arbeitsplatz einzurichten. Dazu fehlt ggf. die Ausstattung – so ist es nicht selbstverständlich, dass Kinder beim Lernen auf einen Rechner, ein Tablet oder ein Smartphone zurückgreifen können.

Ökonomisch besonders hart getroffen können derzeit Familien sein, in der Eltern durch Corona ihren Job verlieren. Und selbst wenn sie nur von Kurzarbeit betroffen sind, können die Gehaltseinbußen eine Familie am Limit in eine prekäre Situation bringen. Das geht natürlich an Kindern psychisch nicht spurlos vorbei.

Ein Versuch ökonomische Nachteile in Angriff zu nehmen, ist das Bildungs- und Teilhabepaket. Ökonomisch benachteiligte Familien können hier Zuschüsse zur Förderung der Bildung (z.B. Geld für Unterrichtsmaterialien) und zur Teilhabe (z.B. Mitgliedsbeitrag für Sportverein) beantragen. Schulen können hier die Eltern bei der Antragstellung unterstützen. Es ist zu prüfen, wie durch Zuschüsse auch das Lernen zu Hause unterstützt werden kann.

Dies gilt sowohl für die Anschaffung von Materialien zur Einrichtung eines Arbeitslatzes. als auch für digitale Werkzeuge. Letztere sind natürlich besonders teuer und können nicht kurzfristig beschafft werden. Umso wichtiger ist es, niedrigschwellige technische Lösungen zu finden, die möglichst wenige Geräte erfordern und ggf. zum Beispiel auch mit dem Smartphone nutzbar sind.

Schulen sollten zudem prüfen, inwiefern sie schuleigene Geräte zur Verfügung stellen können. Tatsächlich ist aber auch die Ausstattung an Schulen sehr ungleich verteilt, da diese vor allem von den unterschiedlich finanzstarken Kommunen abhängt. Es erscheint unerlässlich, dass in diesen Zeiten von der öffentlichen Hand zusätzliche Mittel zur Anschaffung von Geräten zur Verfügung gestellt werden.

So heißt es auch in der aktuellen Stellungnahme des „Expertenrat Corona der Landesregierung Nordrhein-Westfalen“:

„[Es] sind die sehr unterschiedliche technische Ausstattung der Schulen und besondere Bedarfe der Familien zu berücksichtigen und bereits in dieser Phase durch Beschleunigung von Digitalisierungsinitiativenkonkret anzugehen. Digitaler Unterricht darf nicht länger eine Frage des Wohnorts oder des Einkommens der Eltern sein.“

Eine kurzfristige umsetzbare Alternative zur Beschaffung von digitalen Endgeräten für benachteiligte Familien wäre es, innerhalb der Schulgemeinschaft Spendenaufrufe zu starten: Oft haben besser gestellte Familien oder auch örtliche Unternehmen ältere Geräte, die sie nicht mehr brauchen und gerne zur Verfügung stellen.

Sobald Schulen zumindest für einen Teil der Schüler*innen zugänglich sein werden, ist zu prüfen, ob bei Präsenzunterricht nicht benachteiligte Schüler*innen bevorzugt werden, die zu Hause aufgrund der Umstände nicht gut arbeiten können. Ihnen können dann in der Schule Arbeitsplätze mit digitalen Geräten eingerichtet werden.

Ungleichheit bei kulturellem Kapital

Eltern mit großem kulturellem bzw. Bildungskapital kümmern sich in aller Regel besonders um die Bildung ihrer Kinder. Sie sorgen dafür, dass ihre Kinder ein Musikinstrument lernen oder gehen mit ihnen ins Theater. Die Eltern sind zudem oft auch besser in der Lage, ihre Kinder unter den Bedingungen einer Quarantäne beim Lernen zu unterstützen und auch in der Freizeit eine anregungsreiche Umgebung zu schaffen.

Auch im Hinblick auf das Bildungskapital ist es wichtig, die Herkunftseffekte möglichst auszugleichen. Dazu können Schulen zum Beispiel ein reichhaltiges Ganztags-Angebot schaffen, damit sie zum Beispiel auch die Möglichkeit erhalten ein Musikinstrument zu lernen, Sport zu treiben oder Theater zu spielen.

In Zeiten der Schulschließung kann das bedeuten, Kindern nicht nur Aufgaben zu schicken, sondern die Bearbeitung auch stärker zu begleiten, wenn davon auszugehen ist, dass die Eltern dies nicht können oder wollen. Das kann bedeuten, diese Kinder ggf. auch mal persönlich anzurufen oder bevorzugt in die Schule zu holen, sobald dies wieder möglich ist.

Zudem können Schulen und jede Lehrkraft auch Vorschläge für die Gestaltung ihrer Freizeit machen. Schulen könnten zum Beispiel regelmäßig Tipps veröffentlichen, die sie über geeignete Kanäle (dazu später mehr) an möglichst viele Kinder verschicken.

Ungleichheit bei sozialem Kapital

Als soziales Kapital kann man die Summe aller Beziehungen bezeichnen, die ein Mensch pflegt. Gerade in den Zeiten von Corona zeigt sich, wie stark wir auf unsere Beziehungen angewiesen sind. Kinder brauchen in unsicheren Situationen intakte soziale Bindungen. Umso problematischer ist es, dass viele Beziehungen in diesen Tagen gestört sind: Kinder können ihre Freunde nicht wie gewohnt treffen und haben in der Regel keinen direkten Kontakt zu ihren Großeltern.

Die Beziehungen zu Eltern und Geschwistern sind zudem einer harten Probe unterworfen: In vielen Familien kann es durch den psychischen Stress in der Quarantäne häufiger zu Konflikten kommen. In solchen Fällen fehlen durch die Schulschließung Ansprechpartner außerhalb der Familie, denen sich Kinder anvertrauen können.

Kinder brauchen deshalb einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zu Beratungsangeboten – zum Beispiel durch die Einrichtung einer Hotline oder eines Social-Media-Kanal. Schüler*innen, bei denen schon im Vorfeld familiäre Probleme bekannt waren, müssen ggf. auch direkt kontaktiert werden.

Zudem gilt es aber auch, die sozialen Bindungen innerhalb der Klassen zu stärken. Ritualisierte Videokonferenzen im Klassenverband, wie sie Patrick Brauweiler beschreibt, können nicht nur sinnvoll sein, um den Lernprozess voranzubringen, sondern auch um die sozialen Bindungen zu pflegen. In diesem Zusammenhang gilt es zu prüfen, wie die technischen Kompetenzen der Schüler*innen auf diesem Gebiet gestärkt werden können, um auch den Schüler*innen die private Vernetzung zu erleichtern.

Ungleicheit muss diagnostiziert werden

Die Voraussetzung für viele der oben beschriebenen Maßnahmen ist eine genaue Kenntnis über die Verhältnisse, unter denen die Kinder aufwachsen und lernen. Ein Problem in diesem Zusammenhang sind laut El-Mafaalani die wenig ausgeprägten Diagnose-Fähigkeiten von Lehrkräften – insbesondere im Hinblick auf die soziale Herkunft.

„Lehrkräfte haben natürlich ein Bild davon, wie gesegnet ein Kind mit Potenzial und Begabung ist. […] Gleichwohl wurde ich gar nicht darin ausgebildet, die Begabungen oder Defizite professionell zu erkennen. Die Lehrerausbildung ist im Hinblick auf die Diagnose des individuellen Potenzials eines Kindes – optimistisch ausgedrückt – mangelhaft, vielleicht sogar nah am Dilettantismus. Und noch entscheidender: Die soziale Herkunft spielt bei dem wenigen, was man im Bereich Diagnostik lernt, praktisch keine Rolle. Die Ausbildung diagnostischer Kompetenzen ist blind für die soziale Herkunft. Wo man blind ist, kann man auch nicht fördern.“ (S.80)

Die Defizite im Hinblick auf dieses Thema kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen – sowohl im Hinblick auf die Diagnose allgemein als auch im Hinblick auf Ungleichheit. Gerade unter den Bedingungen von Corona ist es aber sehr wichtig, diagnostisch tätig zu werden.

Dazu könnte etwa gehören, vor der Planung des weiteren Unterrichtes in einer Klasse genau zu erheben, wie die Lernbedingungen sind: Welche digitalen Geräte gibt es? Ist ein eigener Arbeitsplatz vorhanden? Welche Unterstützung können Eltern bieten? Welche besonderen Umstände beeinträchtigen das Lernen – zum Beispiel die Betreuung von kleineren Geschwistern.

Es erscheint wenig sinnvoll, dass jede Lehrkraft einzeln eine solche Erhebung durchführt. Diese kann wahrscheinlich am besten durch eine Klassenleitung organisiert werden, die dann die Ergebnisse an den Rest des Teams kommuniziert. Digitale Plattformen wie Edkimo bieten die Möglichkeit relativ niedrigschwellig Abfragen durchzuführen.

Auseinandersetzung mit Lebenswelt von Schüler*innen und Eltern

Eine Diagnose als Grundlage für individuelle Förderung im Hinblick auf die Ungleichheit setzt voraus, dass ich mich als Lehrer mit der Lebenswelt meiner Schüler*innen beschäftige. Dies zeigt nochmal, wie wichtig die Pflege des Verhältnis zwischen Schüler*innen und Lehrkräften ist. In Zeiten der Schulschließung bedeutet das auch, dass insbesondere Klassenlehrer*innen zumindest ab und an den persönlichen Kontakt per Telefkon oder Videokonferenz suchen sollten – zumindest dann, wenn sich Probleme andeuten.

Der Austausch über die Lebenswelten kann und sollte durchaus aber auch im Unterricht geschehen. Denn auch für Schüler*innen ist es wertvoll, sich mit den unterschiedlichen Lebensumständen zu beschäftigen. Ein Austausch innerhalb der Klasse ist durchaus auch während der Schulschließungen möglich.

Ein ungleichheitssensible Tätigkeit erfordert auch einen intensive Kommunikation mit den Eltern. Es muss aber auch klar sein, dass nicht alle Eltern die gleichen Voraussetzung erfüllen. Deswegen ist eine Intensivierung der Elternarbeit unerlässlich: Zum einen muss geklärt werden, welche Aufgaben und Pflichten Eltern haben. Es muss aber eben auch individuell besprochen werden, was sie leisten können und was nicht. Das ist nicht zuletzt auch in Zeiten der Schulschließung unerlässlich: Viel zu oft setzen wir Lehrer*innen Leistungen von Eltern voraus, die sie nicht erbringen können.

Alles steht und fällt mit der Kommunikation

Viele der oben beschrieben Maßnahmen setzen eine intensive Kommunikation der Lehrer*innen mit Schüler*innen und Eltern voraus. Diese gestaltet sich derzeit natürlich besonders kompliziert. Bei Eltern, Schüler*innen und Lehrkräften sind die Voraussetzungen im Umgang mit digitalen Medien sehr unterschiedlich.

Das gilt nicht zuletzt auch für das oft zentrale Kommunikationsmittel E-Mail. Es kann nicht einfach vorausgesetzt werden, dass alle Beteiligten die technische Nutzung dieses Medium souverän beherrschen. Gerade bei Kindern mit Migrationshintergrund kann zusätzlich noch die Sprachbarriere dazu kommen, die die schriftliche Kommunikation erschwert.

Umso wichtiger ist es für Schulen, weitere Möglichkeiten für möglichst niedrigschwellige Kommunikation auszuloten. So kann es für alle Beteiligten schon eine Hilfe sein, wenn die Aufgaben nicht von jeder einzeln Lehrkraft, sondern gesammelt und vorstrukturiert durch die Klassenleitung versendet werden. Denkbar ist auch die Veröffentlichung in einem für alle Beteiligten zugänglichem Cloud-Speicher. Schulen können zum Beispiel verhältnismäßig kostengünstig eigene Nextcloud-Instanzen einrichten.

Mit Lernmanagementsystem wie itslearning oder Moodle können Lehrkräfte Aufgaben an Lerngruppen leichter verteilen und mit ihnen kommunizieren. Zu bedenken ist hier aber, dass ein solches System nicht leichtfertig eingeführt werden sollte, da es auch zu den Anforderungen im normalen Schulalltag passen sollten. Anna Lehnhäuser und Marc Seegers haben erst kürzlich Leitfragen zusammengestellt, die bei der Auswahl einer digitalen Plattform helfen können. Sinnvoll erscheint hier auch den Schulträger mit ins Boot zu holen: Die Barriere sinkt, wenn alle Schulen innerhalb einer Gemeinde die gleiche Plattform nutzen.

Einen besonders persönlichen Kontakt erlauben Videokonferenzen. Auch Elterngespräche oder sogar Elternabende lassen sich per Video-Konferenz organisieren. Sinnvoll ist es hier schulweit auf eine einheitliche Lösung zu setzen – das erleichtert allen Beteiligten den Einsteig. Derzeit gibt kostenlose Angebote von deutschen Anbietern wie der Telekom oder Blizz. Alternativ wäre für technisch ambitionierte Schulen auch denkbar, eine eigene Instanz der der Open-Source-Software Jitsi einzurichten.

Für die Kommunikation mit der ganzen Schulgemeinde sollten Schulleitungen zudem über Präsenzen in sozialen Medien nachdenken: Hier ist der Zugang zumindest für ältere Kinder und auch viele Eltern niedrigschwelliger als per E-Mail möglich.

Der erste Schritt: Selbstreflexion!

Viele der oben beschriebenen Maßnahmen überfordern Lehrkräfte und Schulen gerade. Anfangen können alle Lehrer*innen aber auch im Kleinen, um ungleichheitssensibler zu werden. Der erste Schritt muss sein, sich die Auswirkungen von Ungleichheit und Benachteiligung bewusst zu machen. Das ist gar nicht so einfach: Die meisten Lehrer*innen stammen wie ich selbst auch aus einer Akademiker-Familie. Mir fehlt daher der Zugang zur Lebenswelt von Kindern aus benachteiligtem Milieu.

Diese unterschiedlichen Hintergründe können wechselseitig zu Irritationen führen – zum Beispiel durch abweichende Umgangs- und Kommunikationsformen. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass Kinder aus vergleichbarem Umfeld eher Resonanz-Erfahrungen bei mir erzeugen: Weil es mir und meinem Hintergrund ähnlich ist, neige ich instinktiv dazu, sie positiver wahrzunehmen.

Wie viele kognitive Verzerrungen sind auch diese Habitus-geprägten Eindrücke meist unbewusst. El-Mafaalani weist darauf hin, wie wichtig diese Selbsreflexion ist – nicht nur über den eigenen Habitus:

„Die Selbstreflexion darf nicht bei der Lehrkraft stehen bleiben, sondern muss auch eigene Erwartungen mitdenken: Erwartungen an sich selbst, an andere Lehrkräfte, an die Eltern, an die Schüler, an die Fachkräfte im Ganztagsbereich. Idealerweise werden diese kommuniziert und transparent gemacht. Es geht also nicht nur um die einmalife Formulierung irgendwelcher Leitideen und Prinzipien, sondern auch um einen permanentn Austausch mit dem Ziel der Professionalisierung der pädagogischen Arbeit im Hinblick auf den Abbau sozialer Barrieren.“ (S. 236)

Nicht nur die die eigenen blinden Flecken lassen sich am besten mit Hilfe anderer Menschen entdecken. Feedback von Schüler*innen, Hospitationen durch Kolleg*innen oder Beratung durch Expert*innen wie Schulsozialarbeiter*innen können helfen, die eigene Arbeit und die Schule insgesamt zu verbessern. Das gilt in Zeiten der Schulschließung wegen Corona und der vielen damit verbunden Unklarheiten ganz besonders.

Besondere Rücksicht bei Bewertung, Versetzung und Abshlüssen

Das ist auch deshalb wichtig, weil die Blindheit für den eigenen Habitus in Verbindung mit den mangelhaften Diagnosefähigkeiten sehr nachhaltige Auswirkungen auf das Leben von Schüler*innen haben kann. Kinder aus unteren Schichten bekommen bei gleichen Leistungen schlechtere Noten und erhalten beim gleichen Notenbild seltener Empfehlungen fürs Gymnasium. Das ist insofern besonders ungerecht, da die Kinder eigentlich oft unter deutlich schwierigeren Rahmenbedingungen erbringen. Vereinfacht gesagt: Wenn ein Kind aus benachteiligten Familien die selben Leistungen bringt wie ein Kind aus einem privilegierten Haushalt, kann man davon ausgehen, dass es mehr Potential hat (vgl. S.74f)

Gerade in den Zeiten der Schulschließung ist es wichtig, das im Hinterkopf zu behalten. Bei Bewertung, Versetzung und auch bei Abschlüssen müssen daher schülerfreundliche Lösungen gefunden werden, die sicherstellen, dass die unterschiedlichen Bedingungen währedn der Schulschließung berücksichtigt werden.

Das gilt auch bei der vermutlich anstehenden schrittweisen Rückkehr in den regulären Schulbetrieb. Schulleitungen und Lehrer*innen müssen auch bei Teilzeit-Beschulung die unterschiedlichen Voraussetzungen beim Lernen zu Hause bei der Planung, Durchführung und Auswertung berücksichtigen und entstandende Defizite nicht (nur) den Kindern selbst anlasten. Der Umgang mit Ungleichheit wird auch bei der Aufarbeitung der Corona-Pandemie eine zentrale Herausforderung des Schulsystems bleiben.

Literatur-Nachweis:

El-Mafaalani, Aladin (2020): Mythos Bildung – Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft, Köln: Kiepenheuer & Witsch

Bild: Orna Wachman via Pixabay

Ein Gedanke zu „Bildungsgerechtigkeit in Zeiten von Corona

  1. Wolfgang

    Die Ungleichheit besteht deshalb weil die Schüler von Akademikereltern einen größeren und ausgefeilten Wortschatz haben als Schüler deren Eltern kein Abitur haben. Die Lösung des Ungleichheitsproblems besteht darin die Schüler in die Lage zu versetzen selbständig Wortbedeutungen mit Hilfe des Dudens aufzuklären, so dass die Wortschatz-Kenntnisse ausgeglichen werden!

    Ich empfehle Platons Euthydemos zu lesen. Darin erfährt man weshalb es wichtig ist Wortbedeutungen zu verstehen.

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