Ein gutes Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern ist die Grundlage für eine gelingende Zusammenarbeit. Wie eine Freundschaft braucht aber auch diese soziale Bindung sorgfältige Pflege. Doch im Schulalltag fehlt Lehrern und Schülern oft die Zeit, um achtsam miteinander umgehen zu können.
Wenn ich unterrichte, vergesse ich oft, dass vor mir im Klassenraum Menschen sitzen. Denn wenn ich mich umsehe, sehe ich nur Schülerinnen und Schüler. Das Miteinander in der Schule ist sehr stark geprägt von den Rollen, die Lehrer und Schüler spielen. Beide Gruppen halten sich an größtenteils unausgesprochenen Spielregeln. Die vielleicht wichtigste: Schülerinnen und Schüler gehen in die Schule, weil sie lernen wollen.
Dieses Missverständnis ist eine der größten Konfliktursachen zwischen Lehrern und Schülern. Denn wir Lehrer vergessen, dass Schüler oft ganz andere Prioritäten in ihrem Leben haben. Sie geben schließlich ihren Charakter, ihre Ziele und Wünsche, ihre Hoffnungen und Sorgen nicht an der Schulpforte ab. Wir verlangen von ihnen aber , dass sie sich in eine Rolle fügen, die sie sich nicht ausgesucht haben. Und wir reagieren mit Sanktionen, wenn sie sich nicht entsprechend verhalten.
Alltagsstress verhindert Achtsamkeit
Dass Schüler in erster Linie nicht Schüler, sondern Menschen sind, klingt wie eine Binsenweisheit. Doch gerade unter der Einwirkung von Stress vergessen wir im Alltag häufig, achtsam mit uns selbst und unseren Mitmenschen umzugehen. Der Schriftsteller David Foster Wallace hat diese Quelle des Unglücks zum Thema seiner Rede „This is water“ gemacht.
Mich persönlich erinnerte eine Teenagerin daran, dass auch Schüler Menschen sind. Vor einiger Zeit las ich das Tagebuch der Anne Frank. Dabei war ich überwältigt von der Tiefe und Vielfältigkeit des Innenlebens des jüdischen Mädchens, das sich während des zweiten Weltkrieges mit ihrer Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam vor den Nazis verstecken musste.
Was mich das Tagebuch der Anne Frank lehrte
Annes Tagebuch-Einträge berichten in erster Linie von ihrem Alltag im Hinterhaus und nur am Rande vom Nazi-Terror. Sie erzählt von den Streitereien mit ihren Eltern und von ihrer ersten großen Liebe. Dabei offenbart sie ein so reichhaltiges Seelenleben, dass ich während der Lektüre geradezu beschämt war, wenn ich daran dachte, wie gedankenlos ich oft mit Schülern umgehe. Die jungen Menschen, die ich jeden Tag unterrichte, sind vielleicht gerade (un)glücklich verliebt, haben Angst um ihre Versetzung, leiden unter der Trennung ihrer Eltern oder setzen alles daran, Fußball-Profi zu werden. Und ich behandele sie so, als müsste ihre vorrangige Priorität die Auseinandersetzung mit der Grundgleichung der Mechanik sein.
Diese Einsicht genügt leider nicht. Denn im normalen Stundenplan ist für Beziehungspflege schlichtweg keine Zeit vorgesehen. Im Schulalltag hetzen Lehrer und Schüler von einer zur nächsten Stunde. Vor allem in der Oberstufe spüre ich den latenten Druck, den Stoff durchzupauken. Schließlich ist es meine Verantwortung, dass ich die für das Zentralabitur vorgesehenen Themen behandele. Doch ich spüre immer wieder, dass ich dabei den eigentlichen Zweck meiner Arbeit aus den Augen verliere: das Wohlergehen der Schülerinnen und Schüler.
Ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis fördert das Lernen
Diese fehlende Empathie kann auch dazu beitragen, dass die Schüler weniger lernen. Denn ein gutes Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern rangiert bei der Hattie-Studie unter den Faktoren, die einen besonders positiven Einfluss auf den Erfolg von Unterricht haben. Folgende Merkmale für eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung hat Hattie bei seiner Studie zugrunde gelegt:
- Lehrermitgefühl (Verständnis)
- bedingungslose, positive Beachtung (Wärme)
- Echtheit
- Nondirektivität (Aktivitäten werden vom Lernenden initiiert und reguliert)
- Ermutigung zum kritischen Denken (in Abgrenzung zum traditionellen Erinnern von Inhalten)
Ich unterrichte derzeit über 150 Schüler. Teilweise sehe ich sie nur einmal pro Woche für eine Doppelstunde von 90 Minuten. Man kann sich leicht vorstellen, wie schwer es ist, eine Beziehung aufzubauen, die den oben genannten Kriterien genügt. Doch das Lächeln von Anne Frank ist für mich zum Antrieb geworden, trotz des Alltagsstresses immer wieder Zeit für die jungen Menschen zu nehmen, für die ich arbeite.
Das gelingt mal besser, mal schlechter. Ich würde mir wünschen in einem Schulsystem tätig zu sein, das mir für Empathie und Zuwendung Zeit und Raum gibt. Dass es so kommt, wage ich kaum zu hoffen. Es sagt viel über unser Bildungssystem aus, dass es mir naiv erscheint zu glauben, dass die Förderung eines reichen sozialen Miteinander zwischen Lehrern und Schülern ein Ziel künftiger Bildungsreformen sein könnte.
Mehr aus der Artikel-Serie zum Thema Zeitmangel:
- für gut Ideen
- für Zuwendung und Pflege des Verhältnis zu den Schülerinnen und Schüler
- um aus ihren Fehlern lernen zu können
- für Individuelle Förderung
- für leistungsgerechte und aussagekräftige Bewertung
- für Kooperation innerhalb des Kollegiums
- um mit dem gesellschaftlichen Wandel Schritt zu halten
- spannende, motivierende Aufgaben
Finde diese ehrliche Darstellung sehr hilfreich als Mutter. Vielen Dank.
Darf ich den Artikel bitte auf Facebook auf der Fanseite unserer Schule posten?
Danke schonmal für eine Rückmeldung.
LG
M.G.
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Vielen Dank für diesen Artikel – und die ganze Site. Ich hege ähnliche Gedanken zum (deutschen) Bildungssystem und studiere gerade Kindheitspädagogik, weil es mich interessiert, andere Wege zu erforschen.
Es handelt sich um einen berufsbegleitenden Studiengang mit dem Schwerpunkt auf Inklusion. Was das nun mit diesem Artikel zu tun hat? In der Hochschule lernen wir so viele Dinge zu Inklusion, Pädagogik der Vielfalt, Differenzierung, die Wichtigkeit von Bindung und den Beziehungsaufbau und in der Praxis sitze ich häufig mit bis zu 16 Kindern von 2-7 Jahren in einem Raum. Alle aus verschiedenen Kulturen, mit diversen sozioökonomischen Hintergründen sowie in den verschiedensten Familienformen aufwachsend etc. und dann kommen die Bildungspläne der Länder mit ihren Themen, Kompetenzen etc. daher, die es gilt zu fördern. Mir ist die große Individualität der Kinder bewusst, die ich achten soll, aber eben auch die eng gesteckten Grenzen der Ressourcen.
Ich habe in meiner Praxis wenigstens noch die Freiheit, mich für Beziehungsaufbau und gegen „Lehrplan“ zu entscheiden (in einigen Bundesländern wird diese Freiheit jetzt durch verpflichtende Kontrollen eingeschränkt) und meinem Gefühl nach ist genau das, wo es bei vielen Lehrern drückt: Diesen Spagat meistern. Respekt an alle, die nicht aufgeben!
Wenn Kinder unsere Zukunft sind, warum behandeln wir das Thema Bildung zweitrangig oder eben mit der fordistisch-behavioristisch-kapitalistischen Brille?