Warum Lehrer aus Fehlern nicht lernen

Wer gute Entscheidungen treffen will, muss aus seinen Fehlern lernen – das gilt auch für Lehrer. Doch um alleine oder gemeinsam mit Schülern oder Kollegen über Unterricht nachzudenken, fehlt den Pädagogen meist die Zeit.

Wie steige ich in die Stunde ein? Nutze ich den Beamer oder den Overhead-Projektor? Kontrolliere ich die Hausaufgaben? Wen nehme ich von den zehn Schülern dran, die sich gerade melden? Wie reagiere ich darauf, dass Marc gerade auf den Tisch malt? Frage ich Martin, warum er in letzter Zeit immer so niedergeschlagen wirkt?

200 Entscheidungen pro Unterrichtsstunde

Diese und viele andere Fragen muss ich bei der Planung am Schreibtisch oder auch ganz spontan im Unterricht beantworten. Laut empirischen Studien treffen Pädagogen pro Unterrichtsstunde 200 Entscheidungen und müssen 15 pädagogische Konflikte lösen. Diese oft zitierten Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, da sie aus empirischen Studien aus den Jahren 1968 bzw. 1958 stammen. Aber unabhängig davon, wie viel Entscheidungen es wirklich sind: Tatsächlich spüre ich immer wieder, dass es eine der Belastungen im Lehrerberuf ist, ständig vor irgendeine Wahl gestellt zu werden.

Im Referendariat haben mir manche kniffligen Entscheidungen schlaflose Nächte bereitet. Mit den Dienstjahren habe ich mehr und mehr Routine entwickelt: Wenn zum Beispiel Schülerinnen und Schüler den Unterricht stören, greife ich inzwischen auf ein Set von Reaktionen zurück. Und auch die Unterrichtsplanung geht dank einiger Jahre Berufserfahrung deutlich schneller: Ich habe auf viele Fragen Antworten gefunden, die sich im Laufe der Jahre bewährt haben.

Nicht mehr über jede Entscheidung grübeln zu müssen, entlastet ungemein. Gleichzeitig kann eine solche Routine aber auch zum Problem werden, wenn sich schädliche Verhaltensmuster einschleifen. Umso wichtiger ist es daher, das eigene Verhalten und die pädagogisch-didaktischen Entscheidungen immer wieder zu hinterfragen.

Keine Zeit zum Nachdenken

Wenn eine Stunde nicht gut läuft, kann das viele Gründe haben: Arbeiten die SuS nicht, weil der Arbeitsauftrag schlecht gestellt war? Haben sie den zuvor behandelten Stoff nicht verstanden? Oder liegt es daran, dass sie sich am Nachmittag nicht so gut konzentrieren können? Nicht nur diese Komplexität macht eine Reflexion des Unterrichtsgeschehen im Alltag schwierig. Auch die enge Taktung des Schultages mit mehreren Schulstunden, die nur von kurzen Pausen unterbrochen werden, lässt ein zeitnahes Nachdenken über das eigene pädagogische Handeln oft nicht zu. Nach Unterrichtsschluss sind andere Dinge wichtiger – etwa die Vorbereitungen der nächsten Stunden oder Korrekturen. Und ein paar Tage später verblasst oft schon die Erinnerung an die Stunden, die schlecht gelaufen sind. Letztlich sind es die fehlenden Zeitfenster, die dafür sorgen, dass ich viel zu selten innehalte, und meine Arbeit mit dem nötigen Abstand hinterfrage.

Neben diesem organisatorischen Problem gibt es auch noch ein grundsätzliches: Es ist oft nicht leicht, die eigenen Fehler zu erkennen. Viel besser gelingt eine solche Reflexion mit der Hilfe anderer Menschen. Am naheliegendsten ist dabei natürlich die Schülerinnen und Schüler zu befragen. Zahlreiche Methoden für Schüler-Feedback helfen dabei, solche Rückmeldungen einzuholen. Doch auch eine gemeinsame Reflexion mit den Schülerinnen und Schülern braucht Zeit, die im Unterrichtsalltag oft fehlt.

Gemeinsam reflektieren

Zudem können Schüler nicht jede Frage beantworten. Zur Analyse mancher Probleme braucht es den pädagogischen Sachverstand erfahrener Kollegen. Es gibt tragfähige und evaluierte Konzepte, um sich auch innerhalb eines Kollegiums gegenseitig zu unterstützen. Kollegiale Fallberatung oder gegenseitige Hospitationen im Unterricht sind vielfach bewährte Hilfsmittel.

Das sogenannte Microteaching als Form des Lehrertrainings ist laut der Hattie-Studie sogar eine der wirkungsvollsten Methoden zur Steigerung der Qualität des Unterrichtes. Dabei trainieren Pädagogen gezielt Einzelfertigkeiten  – zum Beispiel die Gesprächsführung. Das funktioniert so:

Micro-teaching besteht aus einer Videoaufzeichnung einer kleineren Unterrichtseinheit mit einer anschließenden Diskussion. Die Videoaufzeichnung der Unterrichtseinheit wird anschließend detailliert besprochen. […] Technische Aspekte sind dabei weniger wichtig als die anschließende Analyse, die der Lehrperson eine mikroskopische Sicht auf das eigene Lehrverhalten erlaubt. Unter Anleitung eines Mentors schließt sich eine Feedbackdiskussion über die gefilmte Unterrichtseinheit an, bestehend aus Selbstfeedback der Lehrperson und Feedback des Teams bzw. der Lernenden, das darauf abzielt Verhalten positiv zu verstärken und konstruktiv zu kritisieren (Quelle: Visible-Learning.org)

In der langen Rangliste der von Hattie untersuchten Faktoren für gutes Lernen, belegt Micro-Teaching Platz 4. Auch wenn man Hattie nicht alles glauben muss, scheint es doch empirisch relativ belastbare Belege zu geben, dass solches Micro-Teaching erfolgsversprechend ist (dafür spricht auch diese Meta-Untersuchung, die 2002 von Hans Gerhard Klinzing in der Zeitschrift für Pädagogik veröffentlicht wurde).

Es gibt keine Anreize, das eigene Tun zu reflektieren

Egal ob Micro-Teaching, Hospitation oder kollegiale Fallberatung: Im Alltag scheitern solche kooperativen Methoden oft schon allein am Stundenplan. Es ist nahezu unmöglich, ein Zeitfenster zu finden, in dem sich mehr als drei Kollegen treffen können. Auch das System bzw. die Arbeitgeber bieten Lehrerinnen und Lehrern keinerlei Anreize, ihre pädagogischen Entscheidungen regelmäßig zu hinterfragen. Entlastungsstunden oder dergleichen für die gemeinsame Reflexion der pädagogischen Praxis sind nicht vorgesehen.

Wie so oft hängt es also vom guten Willen der einzelnen Lehrer ab, ob sie aus ihren Fehlern lernen. Fest steht: Wenn ich in die Reflexion investiere muss ich woanders sparen – zum Beispiel bei der Planung der kommenden Stunden, bei der Beziehungsarbeit mit SuS oder auch bei meiner Freizeit. Wie verwende ich die zur Verfügung stehende Zeit am sinnvollsten? Das ist eine der vielen pädagogischen Fragen, auf die trotz aller Erfahrung bislang keine befriedigende Antwort gefunden habe.

Mehr aus der Artikel-Serie zum Thema Zeitmangel:

Lehrer brauchen mehr Zeit…

Lösungsansätze: Schenkt Lehrer mehr Zeit!

2 Gedanken zu „Warum Lehrer aus Fehlern nicht lernen

  1. Sylvia Zihlmann

    Können Sie die genauen Studien 200 Entscheidungen, 15 päd. Konflikte (1958, 1968) als Quellen hinterlegen? Die Herkunft dieser Information interessiert mich.

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    1. D.S. Beitragsautor

      Ich habe die Infos aus sekundären Quellen. Die Orginalquellen sind aber meines Wissens „Life in Classrooms“ von Philip Wesley Jackson (1968) und „Empirische Untersuchungen über das Verhalten von Lehrern gegenüber Kindern in erziehungsschwierigen Situationen“ von Tausch (1958).

      Antworten

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