Individuelle Förderung: Anspruch scheitert an Realität

Individuelle Förderung trägt dazu bei, dass Schüler viel lernen: Das ist inzwischen eine pädagogische Binsenweisheit. Lehrer, die diesen Anspruch ernst nehmen, müssen aber daran verzweifeln. Ein Blick in einen Physik-Kurs genügt, das Ausmaß der Überforderung zu verstehen.

Guten Unterricht kann man laut Hilbert Meyer anhand von zehn Merkmalen erkennen. An der Checkliste des emeritierten Pädagogik-Professors kommt kaum ein angehender Lehrer in der Ausbildung vorbei. Neben „Methodenvielfalt“ oder „Inhaltlicher Klarheit“ gehört auch „Individuelle Förderung“ zum Meyerschen Unterrichts-Dekalog, den er auch auf Youtube erklärt (Zur individuellen Förderung äußert er sich ab Minute 12).

„Welche Merkmale zeichnen einen guten Unterricht aus?"

Wenn Lehrer ihre Schüler individuell fördern wollen, müssen sie die unterschiedlichen Voraussetzungen, Interessen, Talente und Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler (SuS) berücksichtigen. Das hört sich gut an, oder? Deswegen finden sich Aufrufe zur individuellen Förderung auf Websites der Kultusministerien oder in Interviews mit Kultusministern. Zudem ist in NRW die Individuelle Förderung auch als Pflicht der Lehrerinnen und Lehrer im §8 der Allgemeinen Dienstordnung festgeschrieben.

Doch in der pädagogischen Praxis erweist sich der hehre Anspruch als kaum umzusetzen. Die Anzahl der Unterrichtsstunden und der zu unterrichtenden SuS ist schlichtweg zu groß, um ernsthaft auf die individuellen Bedürfnisse eingehen zu können. Ein kleines Gedankenexperiment kann dabei helfen, zu verstehen, warum auch gutwillige Lehrer unter den gegebenen Umständen am Anspruch „Individuelle Förderung“ scheitern müssen.

Individuelle Förderung im Gedankenexperiment

Stellen Sie sich vor, sie sind Physik-Lehrer. Sie unterrichten neben rund 130 anderen SuS auch einen Physik-Kurs der Stufe 10. Die Mitglieder des Physik-Kurses sind 15 bis 17 Jahr alt. Da die nächste Klausur näher rückt, sollen die SuS sich mit Hilfe von Übungs-Aufgaben vorbereiten. Wie bei der Prüfung bearbeiten sie Aufgaben, bei denen sie die vorher behandelten physikalischen Phänomene und Prozesse erklären oder berechnen müssen.

Ihre Aufgabe: Überlegen Sie sich, mit welchen Maßnahmen sie die unten beschriebenen, frei erfundenen aber durchaus repräsentativen Schülerinnen und Schüler in dieser Unterrichtsstunde konkret individuell fördern würden.

  • Esther ist mit ihren Gedanken immer woanders. Sie braucht mehrere Minuten um ihr Arbeitsmaterial auszupacken. Und dann vergeht noch mehr Zeit, bis sie mit den Aufgaben anfängt. Und kaum hat sie angefangen, verlieren sich ihre Gedanken schon wieder.
  • Mario ist sehr unsicher bei der Bearbeitung von Aufgaben. Deshalb meldet er sich nach jedem Arbeitsschritt, um sich vom Lehrer bestätigen zu lassen, dass er auf dem richtigen Weg ist.
  • Jan findet Physik sterbenslangweilig. Er hat das Fach gewählt, weil es ihm im Vergleich zu den Alternativen Chemie und Biologie als das kleinere Übel erschien. Ihm würde eine 4 auf dem Zeugnis reichen. Dass ihn der Lehrer ständig zu besseren Leistungen motivieren will, nervt ihn. Er will eigentlich nur seine Ruhe haben.
  • Christian ist sehr ehrgeizig: Etwas anderes als ein 1er-Abitur kommt für ihn und seine Eltern nicht in Frage. Deswegen arbeitet er in jeder Stunde hart, um die Anforderungen des Lehrers zu erfüllen. Seine eigenen Interessen und der Spaß am Lernen bleiben dabei auf der Strecke.
  • Marc steckt immer noch mitten in der Pubertät. Schule ist ihm gerade überhaupt nicht wichtig und die Lehrer können ihn mal. Zumindest ist es das, was er nach außen hin zeigen will, um sich zu profilieren: Er stört den Unterricht und arbeitet nur selten. Die Folge ist, dass seine Versetzung in Gefahr ist.
  • Ines hatte in den letzten Jahren eine andere Physik-Lehrerin. Bei ihr hat Ines das Fach immer Spaß gemacht. Seit einer Meinungsverschiedenheit hält sie ihren neuen Physik-Lehrer für einen Riesen-Idioten. Sobald sie ihn sieht, verliert sie die Lust am Lernen.
  • Ole ist aus gutem Grund bei seinen Mitschülern sehr beliebt. Er hat einen guten Sinn für Humor und unterhält den ganzen Kurs. Leider vergisst er dabei oft, dass er sich und andere von der Arbeit abhält.
  • Nils muss jedes Jahr aufs Neue um seine Versetzung bangen. In diesem Jahr hat er sich fest vorgenommen, sich zu verbessern. Doch trotzdem hat er in der letzten Klausur eine 5 geschrieben. Nun ist er total frustriert und es fällt ihm schwer, überhaupt mit den Aufgaben anzufangen.
  • Mats ist sehr zurückhaltend. Er traut sich daher nicht, sich zu melden. Das gilt selbst dann, wenn er nicht weiter kommt und gerne Hilfe hätte. Dann sitzt er vor seinem Blatt und verzweifelt an den Aufgaben und hofft, dass der Lehrer von sich aus zu ihm kommt, um ihn zu unterstützen.
  • Sarah ist hoch begabt. Die Aufgaben sind ihr viel zu leicht. Sie will aber nicht als Streberin gelten. Deswegen fragt sie den Lehrer nicht, ob er nicht anspruchsvollere Aufgaben für sie hat und langweilt sich oft.
  • Hülya ist erst vor kurzem mit ihren Eltern nach Deutschland gezogen. Obwohl sie in ihrer Freizeit hart an ihren Deutsch-Kenntnissen arbeitet, versteht sie viele Erklärungen des Lehrers nicht. Weil ihr oft die Worte fehlen, um Fragen zu stellen, meldet sie sich selten. Sobald sie aber mit Formeln arbeiten kann, zeigt sie, wie gut sie den Stoff versteht.
  • Linus kommt gerne in den Physik-Unterricht. Er mag den Lehrer, ihn interessiert das Fach und er hat gute Noten
  • Stefan ist nach vielen konfliktreichen Monaten gerade bei seinen Eltern ausgezogen und lebt nun in einer betreuten Wohngemeinschaft. Eigentlich will er sich trotzdem im Unterricht konzentrieren, da er sehr ehrgeizig ist. In seinem Kopf ist aber gerade kein Platz für Schulstoff.
  • Martin fallen die Aufgaben leicht. Und deswegen gibt er sich keine Mühe, diese sorgfältig zu bearbeiten. Seine Arbeitsergebnisse sind unstrukturiert und kaum zu entziffern. Das ist leider auch bei Klausuren so, da ihm das Training in den Übungsphasen fehlt. Trotz seines Talentes schreibt er daher immer schlechte Noten.
  • Lisa ist eigentlich durchaus talentiert. Sie versteht viele Inhalte schnell. Aber sie hat keinerlei Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Wenn sie eine Aufgabe löst, war diese viel zu leicht oder es war nur Zufall. Und wenn sie an einer Aufgabe scheitert, ist das nur ein weiterer Beleg dafür, dass sie eine Physik-Versagerin ist.
  • Birte interessiert sich sehr für Physik. Zudem ist sie talentiert und könnte herausragende Ergebnisse erzielen. Noten sind ihr aber nicht so wichtig. Statt Übungsaufgaben zu rechnen, würde sie viel lieber mehr auf eigene Faust lernen.
  • In der Mittelstufe war Max immer sehr gut in Physik. Doch seitdem in der Oberstufe viel mehr gerechnet wird, hat er Schwierigkeiten. Ihm fehlen grundlegende mathematische Fähigkeiten.

Ihnen sind für jeden Schüler geeignete Fördermaßnahmen eingefallen? Sehr schön. Nun überlegen Sie, wie viel Zeit Sie durchschnittlich pro Schüler für die Planung und Umsetzung der Fördermaßnahmen veranschlagen würden. Errechnen Sie nun die Zeit, die Sie brauchen um alle ihre SuS individuell zu fördern: Multiplizieren Sie dazu den von Ihnen veranschlagten Zeitwert mit dem Faktor 150 als Anzahl der SuS, die sie insgesamt unterrichten.

PS: Die Die Beschreibung der Schülerinnen und Schüler sind natürlich vereinfacht und zugespitzt. Das Problem ist: In Wahrheit ist die Individualität in jedem Klassenraum noch viel größer.

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