Schulen haben während der Pandemie quasi nebenbei Millionen von Corona-Tests durchgeführt, zahllose neue Computer und Tablets verteilt und komplexe Lernplatfformen eingeführt. An den Beispielen zeigt sich ein grundlegendes Problem im Schulsystem: Schulen bekommen ständig neue Aufgaben – aber so gut wie nie neue Ressourcen.
Die Corona-Pandemie könnte eigentlich ein Anlass für uns alle sein, das Schulsystem kritisch zu hinterfragen. Es gäbe einige Lehren, die man aus der Pandemie für die Schulentwicklung ziehen könnte. Doch obwohl strukturelle Probleme im Schulsystem wie unter dem Brennglas offengelegt wurden – insbesondere die fehlende Bildungsgerechtigkeit – ist wenig Wandel zu spüren. Im Gegenteil: Das einzige Ziel der Schulpolitiker scheint es zu sein, zum Status Quo zurückzukehren.
Zusätzlich zu diesem fehlenden Reformwillen zeigte sich in den vergangenen Monaten ein ebenso schädliches Muster der Schulpolitik: Schulen werden ständig neue Aufgaben erteilt, ohne ihnen zusätzliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Dies zeigt sich nicht nur mit Blick auf die Bewältigung der Corona-Pandemie, sondern auch bei der von der Politik nicht zuletzt unter dem Druck der Umstände vorangetriebenen Digitalisierung der Schulen. Diese Problematik möchte ich an einigen Beispielen aus den vergangenen Monaten darstellen:
Schulen als Corona-Testzentren ohne Unterstützung
Schulen in Deutschland sind inzwischen zu Corona-Testzentren geworden: Lehrkräfte beaufsichtigen die Selbsttests. Sie müssen die Testergebnisse dokumentieren. In NRW müssen sie inzwischen – wie in vielen anderen Bundesländern auch – auch noch Bescheinigungen ausstellen.
Doch während Testzentren für jeden Bürgertest 18 Euro erhalten, bekommen die Schulen außer den Test-Kits, die palettenweise bei ihnen abgeladen werden: nichts. Dabei ist eine aufwändige Logistik nötig: Mitarbeiter der Schulen müssen die Tests auspacken, für die Ausgabe vorbereiten und an Lehrkräfte verteilen und dann auch die sachgerechte Entsorgung sicherstellen.
Zudem entsteht sehr viel Papierkram: Da die Schulen sicherstellen müssen, dass alle Kinder wirklich zwei Mal pro Woche getestet werden, müssen alle Test dokumentiert werden. Das ist nicht trivial: Es bedeutet zum Beispiel großen Aufwand, wenn der Unterricht ausfällt, in dem der Test eigentlich stattfinden sollte oder Schüler*innen am Test-Tag fehlen.
Im Gegensatz zu den Testzentren müssen sich Schulen zudem mit den menschlichen Konsequenzen der Testpflicht auseinander setzen: Es gibt Eltern, die sich den Tests ihrer Kinder komplett verweigern und die Klassenlehrer*innen und Schulleitungen mit E-Mails bombardieren. Auch der Umgang mit positiven Ergebnissen ist für die Schulen eine große Herausforderung: Da die Tests in der Regel im Klassenverband stattfinden, fallen Positiv-Tests natürlich auf und müssen pädagogisch begleitet werden.
All diese Herausforderungen müssen Schulleitungen, Lehrkräfte und die sonstigen Mitarbeiter zusätzlich zum normalen Tagesgeschäft bewältigen ohne irgendwelche zusätzliche personellen Ressourcen.
Neue Tablets ohne Support
Finanziert aus diversen Fördertöpfen und Mitteln aus dem Digitalpakt wurden in den vergangenen Monaten für die meisten Schulen hunderte Computer und Tablets für Lehrer*innen und Schüler*innen bestellt. Grundsätzlich sind für die Einrichtung der Geräte die Schulträger verantwortlich – also in der Regel die Städte und Gemeinden. Allerdings haben die IT-Abteilungen oft schlichtweg keine Erfahrung bei der Einrichtung der Systeme. Gerade kleine Kommunen sind oft heillos überfordert. Lehrkräfte und Schulleitungen die sicherstellen wollen, dass die Geräte für den Einsatz in der Schule sinnvoll konfiguriert sind, müssen sich hier stark einbringen.
Das Land als eigentlich verantwortlicher Dienstherr der Lehrkräfte liefert wenig Hinweise zur Konfiguration von Dienstgeräten. So muss man etwa dankbar sein, dass sich findige Lehrkräfte mit den Themen auseinander setzen und ihr Wissen teilen. Vor allem beim Datenschutz bleiben viele Fragen offen. Weiterhin gibt es beispielsweise in vielen Bundesländern keine eindeutigen Stellungnahme von der Landesregierung oder den Datenschutzbeauftragten, ob Schulen Microsoft 365 nutzen dürfen oder nicht.
Große Probleme werden auch noch beim Support entstehen. Normalerweise ist es Aufgabe der Schulträger den Support für die IT-Hardware an den Schulen zu übernehmen. Viele Kommunen haben aber Probleme die Stellen von IT-Technikern zu besetzen – viele Aufgaben bleiben daher bei den Schulen hängen.
Aber selbst wenn Techniker vor Ort sind: Ob sie auch für die Wartung der Geräte der ja beim Land gestellten Lehrer*innen verantwortlich sind, ist zumindest strittig. Die in NRW für die Aufteilung der Aufgaben maßgebliche Verabredung zwischen Land und kommunalen Spitzenverbänden stammt aus dem Jahr 2008 – von Dienstgeräten ist hier noch keine Rede.
In jedem Fall ist davon auszugehen, dass der First-Level-Support weiter Aufgabe von Lehrkräften bleiben wird. Doch es macht einen großen Unterschied, ob die IT-Admins im Kollegium 50 oder 500 Geräte betreuen – ein solcher Sprung bei den Gerätezahlen entspricht bei vielen Schulen gerade durchaus der Realität. Schulen in NRW erhalten aber weiterhin keinerlei für diese Aufgabe vorgesehenen Anrechnungsstunden.
Doch die Schulen werden nicht nur mit dem Support alleine gelassen: Auch die Fortbildungen müssen sie größtenteils selbst organisieren. In NRW gab es 1000 Euro extra für das Fortbildungsbudget und einen zusätzlichen Schulentwicklungstag. Ein strukturiertes und groß angelegtes Fortbildungsangebot vom Land gibt und gab es aber nicht. Klar ist zumindest in NRW, wer nicht für IT- und Medien-Fortbildungen verantwortlich: Die vielen versierten Medienberater*innen sollen in NRW laut einem neuen Erlass künftig keine Fortbildungen anbieten.
Komplexe Lernmanagementsysteme ohne Konfiguration
Viele Bundesländer haben im Laufe der Corona-Pandemie neue Lernmanagementsysteme eingeführt. In NRW hat das Land Logineo NRW LMS zur Verfügung gestellt. Das System basiert auf Moodle. Das Open-Source-System bietet viele Möglichkeiten – ist aber auch in der Bedienung und vor allem der Administration komplex (mehr zu Logineo NRW LMS im Blog-Artikel).
Das System wird in einer Basiskonfiguration ausgeliefert. Jede Schule muss die Administration dann selber übernehmen. Für die Lehrkräfte, die viele Stunden damit verbringen sich einzuarbeiten und die Konfigurationen vorzunehmen, gibt es keinerlei Anrechnungsstunden.
Auch bei Logine NRW LMS gab es zu wenig Unterstützung durch Fortbildungen: Das Land und die Bezirksregierungen haben Fortbildungen erst Monate nach dem Release angeboten und dann zunächst auch nur in sehr begrenzten Umfang – viele Anmeldungen wurden zunächst abgelehnt.
Diese fehlende Unterstützung führt dazu, dass wahrscheinlich viele Schulen ohne besonders engagierte und versierte Kolleg*innen mit der Einführung und dem Betrieb von Logineo NRW LMS überfordert sein werden und so auch künftig viel Potential verspielt wird.
Pflichtfach Informatik ohne Ausstattung und Lehrer
Als ein weiterer Baustein in der Digitalisierungs-Strategie wird nach dem Willen der Landesregierung in NRW sehr kurzfristig Informatik als Pflichtfach in den Stufen 5 und 6 eingeführt. Im Februar wurde ein erster Entwurf des Lehrplan veröffentlicht. Dieser ist aber zunächst noch in der Verbändebeteiligung und somit noch nicht endgültig. Die Schulen wissen also noch nicht genau, was sie unterrichten sollen. Nichtsdestotrotz soll es im kommenden Schuljahr los gehen.
Die fehlenden Informationen erschweren natürlich die Anschaffung des passenden Unterrichtsmaterials. Zudem müssen die Schulen bzw. die Schulträger nun prüfen, woher sie das Geld für eine für den Unterricht geeignete Ausstattung hernehmen: Zusätzliche Mittel wurden dafür nicht zur Verfügung gestellt. Denkbar ist zwar, Mittel aus dem Digitalpakt zu verwenden – diese fehlen aber dann natürlich an anderer Stelle.
Noch problematischer für die Schulen ist es, dass die wenigsten Schulen überhaupt Lehrkräfte haben die das Fach unterrichten. Informatik war bislang vor allem in der Oberstufe beheimatet. Auch hier hatten viele Schulen schon Probleme, ihre Stellen zu besetzen. Zwar werden nun Zertifikatskurse angeboten, um Lehrkräfte für den Unterricht zu qualifizieren. Es wird aber noch Jahre dauern, bis genügend Lehrer*innen dafür qualifiziert sein werden das Fach zu unterrichten. Wie die Schulen dieses Problem lösen, bleib ihnen wiederum überlassen.
Ja, das ist immer so!
Die geschilderten Fälle sind nur wenige von zahllosen Beispielen aus den vergangenen Jahren: Gesellschaft und Politik übertragen Schulen wieder und wieder neue Aufgaben, ohne ihnen die nötigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Dabei handelt es sich manchmal um kleine Verwaltungsakte wie die Überwachung der Masern-Impfpflicht bis zu großen gesellschaftlichen Aufgaben: Inklusion, Integration, Demokratiebildung, der Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus – es gibt kaum eine gesellschaftliche Herausforderung, bei dem Politiker und Journalisten in Reden und Kommentaren auf die wichtige Rolle der Schulen hinweisen. Doch so gut wie immer fehlt der Hinweis darauf, welche Ressourcen die Schulen erhalten sollen, um diese zusätzlichen Aufgaben zu schultern.
In meinen Jahren im Schuldienst kann ich mich persönlich an kein Beispiel erinnern, bei dem eine neue Aufgabe mit auskömmlicher Unterstützung verbunden wurde. Bei der wünschenswerten Erweiterung der Belegschaft von Schulen zu multiprofessionellen Teams gibt es wenig Fortschritte. Wenn aber ständig neue Aufgaben dazu kommen, leiden darunter die eigentlichen Kernaufgaben: Die Qualität der pädagogischen Arbeit, des Unterrichts und der menschlichen Kontakte kann nicht aufrechterhalten werden.
Gleichzeitig herrscht ohnehin an vielen Schulen ein großer Mangel an Lehrer*innen. Das betrifft insbesondere Schulen in Brennpunkten und Schulformen, die nicht Gymnasien sind. Vor diesem Hintergrund müssen Schulleitungen dort oftmals vor allem Mängel verwalten, statt zu gestalten.
Keine neue Aufgaben ohne neue Ressourcen!
Und so kommt es, dass das deutsche Schulwesen weiter im Status Quo erstarrt. Den Politiker*innen scheint der Wille zu fehlen, systematische Veränderungen herbei zu führen. Und vielen Lehrer*innen und Schulleiter*innen fehlt angesichts der chronischen Überlastung schlichtweg die Zeit und die Kraft, Schulen schülergerechter zu gestalten. Wenn der Gesellschaft wirklich etwas an ihren Schulen und vor allem den Schüler*innen liegt, muss künftig gelten: Keine neue Aufgabe ohne neue Ressourcen!
Disclaimer: Ich bin Lehrer in Nordrhein-Westfalen. Ich schildere die Beispiele hier also aus dieser Perspektive. Anhand der Rückmeldungen im #Twitterlehrerzimmer habe ich aber den Eindruck gewonnen, dass es in anderen Bundesländern ähnlich ist. Wenn ihr andere Erfahrungen habt, schreibt sie gerne in die Kommentare.
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So ist es! Gut geschrieben! Mir fehlt bei der Aufzählung noch etwas: Konzepte schreiben. Jede neue Aufgabe zieht auch immer ein neues Konzept nach sich. Das muss erarbeitet und geschrieben werden. Ob das Konzept dann auch gelebt wird? Egal. Ist schön für die Schublade. Warum? So kann der Schulrat schön Konzepte sammeln. Als Beweis der Umsetzung, falls mal jemand von weiter oben fragt.
Ja – das ist sicherlich ein weiteres Beispiel. Dazu zähle ich auch die schulinternen Lehrpläne: Hier wird viel Zeit investiert, ohne dass die Arbeit wirklich Früchte trägt – zumindest in vielen Fällen. https://bildungsluecken.net/966-schulinterne-lehrplane-paedagogische-chance-triste-realitat