Autonomie als Fähigkeit, das eigene Handeln eigenverantwortlich zu gestalten, ist eines der klassischen Ziele von Bildung. Unser Schulsystem erzieht SuS aber eher zum blinden Lerngehorsam. Für lernförderliche Eigeninitiative ist wenig Raum.
Neulich in einer Philosophie-Stunde in einem Oberstufen-Kurs. Ich hatte für eine Vertiefungsphase eine Auswahl von teilweise offenen Arbeitsaufträgen erstellt. Die Schülerinnen und Schüler (SuS) sollten so die Möglichkeit bekommen, abhängig von ihren Stärken und Interessen eigene Lernwege zu wählen. Eine Schülerin schaute etwas griesgrämig drein. „Was ist los?“, fragte ich. Die Schülerin antwortete sichtlich genervt: „Können sie uns nicht einfach sagen, was wir machen sollen?“ Und mal wieder fragte ich mich: Wie schafft es unser Schulsystem so zuverlässig, aus vor Neugier platzenden Kindern junge Erwachsene zu machen, die ihre Schulzeit als sinnlose Zeitverschwendung empfinden.
Ein Hauptgrund besteht aus meiner Sicht darin, dass SuS die Lernprozesse nur selten autonom gestalten können. Unter Autonomie verstehe ich in diesem Zusammenhang die Fähigkeit eines Menschen, sein Leben und Handeln nach selbst gewählten Prinzipien zu gestalten. In der Schule haben SuS oft wenig Gestaltungs-Spielraum: Schultage sind häufig eine nicht enden wollende Abfolge von Fremdbestimmtheit und Instruktionen. Zwar wird von den Jugendlichen gerne Eigenverantwortung gefordert. Diese reicht aber nur so weit, dass sie eigenverantwortlich das tun sollen, was der Lehrer von ihnen will. Erfolgreiche sind Schüler meist dann, wenn sie gut darin sind, Anweisungen zu befolgen.
Dabei ist Fremdbestimmung für nachhaltiges Lernen eher kontraproduktiv: Denn eigene Motivation und Enthusiasmus sorgen nicht nur dafür, dass Lernen Spaß macht, sondern auch, dass das Gelernte länger hängen bleibt, weil der Stoff als bedeutsam wahrgenommen wird. Tatsächlich mache ich gerade dann beglückende pädagogische Erfahrungen, wenn ich SuS Freiheiten lasse. Gerade dann, wenn sie die Wahl haben, was sie mit einem Thema und der zur Verfügung stehenden Schulzeit anfangen, können ihre Individualität und ihre Talente besonders zur Geltung zu kommen.
Ein Projekt: Frei über Freiheit nachdenken
Wie das praktisch im Unterricht funktionieren kann, möchte ich anhand eines Beispiels aus dem Philosophie-Unterricht darstellen: Im Unterricht der Stufe 11 hatten wir den Existentialismus Jean-Paul Sartres behandelt. Sehr kurz gefasst: Weil es keinen Gott gibt, sind wir Menschen frei, selbst zu wählen, wie wir sein wollen. Daraus folgt aber auch, dass wir Verantwortung für die Menschheit insgesamt übernehmen müssen:
„Wenn wir sagen, dass der Mensch sich wählt, verstehen wir darunter, dass jeder unter uns sich wählt; aber damit wollen wir ebenfalls sagen, dass, indem er sich wählt, er alle Menschen wählt.“ (Jean-Paul Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus)
Aufgabe der SuS war es nun, ausgehend von Sartres Gedankengang eine eigene Vision für die Menschheit zu entwickeln und kreativ darzustellen. Weitere Vorgaben: Keine. Die Ergebnisse waren so vielfältig wie die SuS im Kurs: Videos, Comics, Rap-Texte, Gedichte, die ersten Kapitel eines Romans, eine Radio-Sendung, ein Lehrplan einer Utopie-Schule und ein Öl-Gemälde (siehe Bild oben). Besonders beeindruckt hat mich ein Song, den ein Schüler aus dem Kurs selber geschrieben und mit Unterstützung von Mitschülern aufgenommen hat.
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Viele der SuS haben sich mit großem persönlichem Einsatz mit Sartres Philosophie auseinander gesetzt. Insofern sie dabei individuelle Wege gegangen sind, haben sie sich den Stoff wirklich zu eigen gemacht. Auch dieses Objekt hat mir wieder einmal gezeigt: Wenn aus dem „Du musst“ ein „Ich will“ wird, zeigen SuS sehr häufig Leistungen, die so besonders sind wie die Menschen, die sie erbracht haben.
Standardisierung schränkt Lehr- und Lern-Freiheit ein
Projekte wie dieses zeigen, dass eine eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Inhalten durchaus möglich und sogar erfolgversprechend ist. Doch nach eigener Aussage haben SuS nur sehr selten die Wahl, was und wie sie lernen wollen. Wieso räumen Lehrerinnen und Lehrer (LuL) ihren SuS nicht einfach öfter Lern-Spielräume ein?
Zumindest teilweise liegt die Ursache im Schulsystem selber: Individualisierung ist zwar ein Themenschwerpunkt auf der Website des zuständigen Ministeriums in NRW, der Trend ging in den vergangenen Jahren aber zur Standardisierung. Vor allem in der Oberstufe schreiben die Vorgaben zum Zentralabitur sehr genau vor, was SuS lernen sollen. Die Standards entmündigen nicht nur die SuS, sondern auch die LuL: Sie können nicht länger frei entscheiden, was und wie sie gerne lehren. Ihre erste Pflicht ist nicht (mehr?), dass die SuS möglichst viel und gut lernen, sondern dass der vom Zentralabitur und den Lehrplänen geforderte Stoff behandelt worden ist.
Offenheit als Risiko…
Offenheit bei Arbeitsaufträgen ist im Hinblick auf diese Dienstpflicht eher ein Risiko: Denn die Zeitplanung ist oft deutlich schwerer, wenn man den SuS Spielräume gibt. Zudem dauert selbständiges Lernen viel länger, als wenn der Lehrer nach dem Trichter-Prinzip Wissen in ihre Gehirne füllt. In vielen Fächern sind die Vorgaben für das Zentralabitur so voll gepackt, dass auch gutwilligen Lehrern oft keine Zeit bleibt, um den SuS Spielräume für eigene Projekte zu geben.
Dazu kommt, dass sich individuelles Lernen grundsätzlich nicht gut mit der Vorbereitung auf ein standardisiertes Abitur verträgt. Einen Lehrervortrag ist nicht nur zeitsparend, sondern lässt sich auch genau auf die geforderten Kompetenzen zuschneiden. Gebe ich dagegen offene Arbeitsaufträge, kann ich nicht mehr so genau steuern, ob die SuS sich auf die für das Zentralabitur relevanten Inhalte konzentrieren oder doch lieber einfach die Aspekte in den Blick nehmen, die sie interessieren. Das führt zu einer paradoxen Situation: Als Lehrer in der Oberstufe muss ich mich immer wieder aufs neue entscheiden, ob die SuS besonders viel und mit Freude lernen sollen, oder ob ich sie gut auf das standardisierte Abitur vorbereiten will.
Keine Autonomie – keine intrinsische Motivation
So trägt das Zentralabitur dazu bei, dass viele Lehrer eher davor zurückscheuen, den SuS Freiheit zu geben. Die fehlenden Lehr-Spielräume führen also zu kleineren Lern-Spielräumen. Und weil die SuS keinen Einfluss auf den Lernstoff haben, empfinden sie ihr Lernen als fremdbestimmt. Die dadurch fehlende intrinsische Motivation ersetzen wir Pädagogen durch extrinsischen Druck. Ich erwische mich immer wieder, dass ich SuS unter Verweis auf drohende schlechte Noten unter Druck setze mit Sätze wie „Wenn Du jetzt nicht anfängst zu arbeiten, dann sehe ich für Deine Note schwarz“, um sie zur Arbeit anzutreiben.
Denn in einem Schulalltag, in dem sie keine eigenen Entscheidungen treffen können, ist die Aussicht auf gute Noten oft die einzige Motivation, die den Jugendlichen noch bleibt . Dabei sind Noten eine zweifelhafte Gegenleistung: Zunächst einmal ist eher fragwürdig, ob Lehrer unter den gegebenen Umständen überhaupt Noten geben können, die die Leistungen der SuS realistisch widerspiegeln. Viel schlimmer ist aus meiner Sicht: Welchen persönlichen Wert hat eine 1 in einer Klausur, bei dem für die SuS eigentlich irrelevantes Wissen abgefragt wurde? Gute Noten weisen letztlich nur nach, dass SuS etwas können, dass ihnen nichts bedeutet.
Noten als zweifelhafte Gegenleistung
Einige SuS verstehen oft eher instinktiv, dass sie in einer Währung entlohnt werden, die eigentlich gar nichts wert ist. Die Schulkarrieren solcher Persönlichkeiten scheitern allerdings nicht selten. Denn einem Schüler, dem Noten egal sind, hat unser Schulsystem so gut wie gut wie keine Gegenleistung zu bieten.
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, hat Kant geschrieben. Insofern so verstandene Aufklärung zur Autonomie eine maßgebliche Grundlage für ein verantwortliches Teilhabe in einer demokratischen Gesellschaft ist, bildet sie auch einen wichtigen Bestandteil von Bildung. Wohl deshalb zitieren Bildungspolitiker Kant gerne in Reden.
Kein Workout für Autonomie-Muskeln
Wenn das Schulsystem die Förderung der Autonomie wirklich als Ziel hat, muss es die SuS aber auch Möglichkeiten geben, sich in der Ausübung ihrer Freiheit zu versuchen. Eigenständigkeit, Gestaltungswille und Kreativität sind wie Muskeln, die man trainieren muss. Ein entsprechendes Workout findet in Schulen aber nur selten statt, weil die nötigen Spielräume fehlen. Im Gegenteil: Unser zunehmend standardisiertes Schulsystem lässt die Autonomie der SuS verkümmern.
„Können sie uns nicht einfach sagen, was wir machen sollen?“, hatte die Oberstufen-Schülerin mich gefragt. Ich fragte nach: „Wieso möchtest Du das nicht selber entscheiden?“ – Nachdem sie kurz nachgedacht hatte, antwortet sie: „Ich bin es einfach nicht gewöhnt, in der Schule eigene Entscheidungen zu treffen.“
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Dich hätte ich gerne als Lehrer gehabt.
Gruß von einem den du belächelt hast, und dich immer gern genervt hat *g*
Lieber F.,
Danke für die Blumen. Ganz ehrlich: Kann mich nicht daran erinnern, Dich je belächelt zu haben. Und genervt hast Du mich auch nicht wirklich. Ich nehme das mal als Anlass, mir mal wieder über Gedanken über meine Außenwirkung machen. Das ist ja als Mensch und als Lehrer nicht unerheblich…