Das Leben des Galilei - guter Stoff für fächerübegreifenden Unterricht

Woran fächerübergreifender Unterricht scheitert

In fächerübergreifendem Unterricht können Schüler vielschichtiger und nachhaltiger lernen. Vor allem in der Oberstufe ist interdisziplinäres Arbeiten aber eher die Ausnahme. Organisatorische Hürden und das Zentralabitur machen es Lehrern schwer, die Fächergrenzen zu überwinden.

Neulich in einer Freistunde: Ich unterhalte mich auf dem Weg zur Mensa mit einer Deutsch-Kollegin. Wir stellen fest, dass in ihrem Grundkurs einige meiner Schützlinge aus dem Physik-LK sitzen. Sie erzählt, dass sie gerade das „Das Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht behandelt, ein Theater-Stück über den genialen Naturwissenschaftler und seine Auseinandersetzung mit der Inquisition der katholischen Kirche.

Meine Kollegin und ich geraten in der Warteschlange vor der Kaffee-Ausgabe ins Grübeln: Könnte man nicht fächerübergreifend arbeiten? Deutsch meets Physik? Uns fallen viele Fragen ein, die aus beiden Perspektiven interessant sind: Welche Rolle spielt wissenschaftliche Forschung bei der Entwicklung unserer Gesellschaft? Wie beeinflussen gesellschaftliche Machthaber, was erforscht wird und was nicht? Welche Verantwortung tragen Wissenschaftler für ihre Forschung und die resultierenden Folgen? Gibt es Dinge, die man nicht erforschen sollte?

Deutsch meets Physik meets Geschichte meets Religion meets Kunst

Vielleicht könnte man noch Lehrerinnen und Lehrer (LuL) der Fächer Sozialwissenschaften, Literatur, Geschichte, Philosophie, Religion oder Englisch ins Boot holen. Die vielen Perspektiven könnten eine viel tiefere Auseinandersetzung mit dem Stoff ermöglichen (siehe Skizze unten). Mir fallen sofort Kollegen ein, mit denen ich an einem Nachmittag ein großartiges, fächerübegreifendes Unterrichtsprojekt aus dem Boden stampfen könnte. SuS könnten dabei unabhängig von ihrer Kurs-Zugehörigkeit kooperieren und im Sinne eines autonomen Lernens eigene Lern-Schwerpunkte setzen. Und könnten nicht die SuS ihre Ergebnisse auf einer Website präsentieren und so nebenbei ihre Medienkompetenzen schulen?

Fächerübergreifender Unterricht: Eine Projekt-Skizze zu "Das Leben des Galilei"

Fächerübergreifender Unterricht: Eine Projekt-Skizze zu „Das Leben des Galilei“

Hört sich gut an, oder? Aber dieses Projekt zu „Das Leben des Galilei“ wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Ich weiß nicht, wie viele Gespräche ich mit Kollegen bereits über mögliche fächerübergreifende Unterrichts-Projekte geführt habe. In der Regel enden diese Gespräche mit einem gleichermaßen sehnsüchtigen wie desillusioniertem Seufzen. Denn die Realität ist: SuS lernen im Schulalltag an Gymnasien und vor allem in der Oberstufe nur sehr selten fächerübergreifend.

Warum interdisziplinäres Lernen wünschenswert ist

Dabei gibt es zahlreiche gute Gründe dafür, die Interdisziplinarität zu fördern. Fächerübergreifender Unterricht ist lernpsychologisch sinnvoll, da er ein vernetzendes, kumulatives Lernen fördert. Denn Lernen ist streng genommen nichts anderes als netzwerken: Informationen werden in unserem Gehirn in neuronalen Netzen abgespeichert. Je vielfältiger Informationen in diesen verzweigten Strukturen unseres Gehirns miteinander verbunden sind, desto nachhaltiger bleiben sie langfristig als Wissen abrufbar.

Zudem ist fächerübergreifendes Lernen auch in besonderem Maße sinnstiftend. Häufig erleben SuS einen Schultag als unzusammenhängende Zusammenstellung von Einzelfächern. Dass es sich letztlich um verschiedenen Perspektiven auf die Welt handelt, die sich wechselseitig ergänzen, wird viel zu selten offenbar. Dabei erlebe ich immer wieder, dass es für die SuS ein besonderes Aha-Erlebnis bedeutet, wenn sie Verbindungen und Parallelen zwischen den Fächern entdecken.

Interdisziplinäres Lernen ist zudem wichtig, um die SuS auf eine veränderte Hochschul- und Wissenschafts-Landschaft vorzubereiten. Hier verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen den Disziplinen. Der letzte deutsche Nobelpreisträger Stefan Hell etwa ist ein studierter Physiker. Ausgezeichnet wurde er mit dem Nobelpreis für Chemie. Und prämiert wurde er für seinen Beitrag zur Entwicklung der Fluoreszenz-Mikroskopie, einem Verfahren, das vor allem Biologen und Medizinern bei der Grundlagenforschung hilft.

Stefan Hell (Chemie-Nobelpreis 2014): STED - Lichtblicke in die Nanowelt

Die Rahmenbedingungen verhindern fächerübergreifenden Unterricht

Dass die Überwindung von Fächergrenzen nicht nur in der Forschung, sondern auch beim Lernen eine vielversprechende Strategie ist, scheint kaum jemand zu bestreiten. Bildungspolitiker fordern diese Interdisziplinarität immer wieder ein. Und auch der Kernlehrplan Physik weist LuL darauf hin, dass der Unterricht „einen Beitrag zur interkulturellen Verständigung, zur interdisziplinären Verknüpfung von Kompetenzen, auch mit gesellschaftswissenschaftlichen und sprachlich-literarisch-künstlerischen Feldern“ leisten soll.

Wie diese Vernetzung im Schulalltag wirklich gefördert werden soll, steht nirgendwo. In der Unter- und Mittelstufe ist es noch relativ einfach möglich, im Klassenverband fächerübergreifend zu arbeiten. Erschwert wird die Kooperation hier nur durch die für Lehrer-Teamwork schlechten Rahmenbedingungen im Schulalltag und volle Lehrpläne.

In der Oberstufe sind Kooperation aber dann eine echte Seltenheit. Das liegt nicht in erster Linie am mangelnden Willen zur Kooperation. Im Gegenteil: Laut einer aktuellen Studie der Robert-Bosch-Stiftung steigt die Bereitschaft zur Teamarbeit bei Lehrern. Dass fächerübergreifender Unterricht in der gymnasialen Oberstufe so selten vorkommt, liegt vor allem an den organisatorischen Rahmenbedingungen, an denen die Pädagogen wenig ändern können.

Das Kurssystem

In der Oberstufe lernen die SuS nicht mehr in Klassenverbänden, sondern in Kursen. Die SuS haben alle unterschiedliche Fächer-Kombinationen. Es gibt daher in der Regel keine zwei Kurse, deren Schülerschaft sich deckt. Zudem haben auch alle SuS individuelle Stundenpläne: Dadurch gibt es in der Regel keine Zeitfenster außerhalb von Pausen, in denen sich SuS aus verschiedenen Kursen treffen und zusammen arbeiten können. Kontingente für fächerübergreifende Projekte sind in der ohnehin überfüllten Stundentafel nicht vorgesehen.

Zu wenig Freizeit

Eine Arbeit außerhalb der Unterrichtszeiten gestaltet sich ebenfalls schwierig . Durch die Verkürzung der Schulzeit an Gymnasien in NRW von neun auf acht Jahre sind die Stundenpläne so voll, dass den SuS kaum Zeitfenster für eine Kooperation außerhalb des Unterrichtes bleiben. Oberstufen-Schüler haben teilweise an bis zu vier Tagen Nachmittagsunterricht.

Unvernetzte Lehrpläne

Die Autoren der Lehrpläne scheinen sich abgesehen von den oben zitierten Allgemeinplätzen in den Präambeln nicht sonderlich um Förderung der Interdisziplinarität zu scheren. Zwar tauchen viele Inhalte in verschiedenen Fächern auf, diese Schnittmengen zu finden wird Pädagogen aber nicht leicht gemacht: Verweise auf vergleichbare Inhalte in anderen Fächern oder gar interdisziplinäre Lernziele fehlen in den Lehrplänen. Zudem sind verwandte Inhalte oft auf unterschiedliche Schuljahre verteilt – eine Abstimmung bei der Strukturierung der Inhalte scheint nicht stattgefunden zu haben.

Fehlende Flexibilität durch Zentralabitur

Alle diese organisatorischen Hindernisse ließen sich umschiffen, wenn LuL und SuS flexibel agieren könnten. Beim oben beschriebenen Projekt zum „Leben des Galilei“ könnten die SuS in den beteiligten Kursen einfach parallel an den zugehörigen Fragen arbeiten. Es wäre dabei gar nicht schlimm, wenn nicht alle SuS alle involvierten Fächer belegt hätten. Im Gegenteil: Die SuS könnten sogar von dem jeweils unterschiedlichen Know-How profitieren. Zudem könnten sie entsprechend ihrer Interessen eigene Schwerpunkte setzen und individuelle Lernwege beschreiten. Und die LuL könnten jeweils abhängig von der Fächerperspektive konkrete Anforderungen an die Projekte formulieren.

Genau diese Flexibilität ist durch die Standardisierung in der Oberstufe aber verloren gegangen. LuL in der gymnasialen Oberstufe haben die vordringliche Aufgabe, die SuS auf das Zentral-Abitur vorzubereiten. Ich als Physik-Lehrer muss zum Beispiel sicher stellen, dass die im Lehrplan und den Vorgaben zum Zentralabitur eindeutig vorgegebenen Kompetenzen vermittelt werden. Fächerübergreifende Projekte bedeuten hier ein Risiko: Neben dem größeren Zeitaufwand ist auch die eigentlich sinnvolle Lern-Autonomie eine potentielle Gefahr: Was ist, wenn ein SuS sich gerne auf eine andere als die physikalische Perspektive konzentrieren will?

Das Zentralabitur soll sicherstellen, dass alle SuS ganz bestimmte Inhalte und Kompetenzen erwerben. Indem diese Standardisierung fächerübergreifenden Unterricht erschwert, verhindert sie aber, dass SuS möglichst viel und vielschichtig lernen. So lange hier nicht mehr Raum für Flexibilität geschaffen wird, werden Gespräche über fächerübergreifenden Unterrichts-Projekte weiter mit einem Seufzen enden.

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