Aus Fehlern wird man klug, heißt es. Irrtümer könnten auch in der Schule der Ausgangspunkt für Lernprozesse sein. In Klassenräumen steht aber die Fehlervermeidung im Vordergrund. Diese negative Fehlerkultur erschwert erfolgreiches Lernen.
Das Leben ist wie der Auftritt auf der Bühne eines Improvisations-Theaters: Man weiß nie, was einen erwartet. Es gibt keine Proben. Jeder Tag im Leben ist die Premiere. Mit dieser Metapher beschreibt die Literatur-Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska in ihrem Gedicht „Life while you wait“ das Leben.
Weil man sich nicht auf jede Situation auf der Bühne des Lebens vorbereiten kann, sind auch Fehler unausweichlich. Und das muss nicht schlimm sein. Wer kleinen Kindern beim Heranwachsen zusieht, kann miterleben, dass Trial-and-Error ein Grundprinzip des Lernens ist.
Manager und Wissenschaftler lernen aus Fehlern
Längst hat sich auch in der Wirtschaft herum gesprochen, dass man aus Fehlern lernen kann. So gibt es inzwischen mit der FailCon ein Konferenz-Format, auf dem gescheiterte Start-Up-Gründer über ihre Fehler berichten. Auch der Politiker Christian Lindner geht offensiv mit seinem gescheiterten Versuch um, ein Start-Up zu gründen. Und mit JunQ existiert eine Plattform, auf der Wissenschaftler Artikel über gescheiterte Forschungsprojekte und offen gebliebene Fragen veröffentlichen können.
Ein produktiver Umgang mit Fehlern ist ein Stück Lebenskompetenz. Wenn unser Schulsystem den Anspruch hat, Schülerinnen und Schüler (SuS) gut auf ihre Zukunft vorzubereiten, muss sie daher die Fähigkeit vermitteln, produktiv mit Fehlern umzugehen getreu dem Motto: „Your best teacher ist your last mistake.“ Dafür müsste der Klassenraum ein geschützter Raum sein, in dem die jungen Menschen sich trauen, Fehler machen und daraus lernen können.
In der Schulrealität ist das Gegenteil der Fall. In einem früheren Artikel habe ich schon beschrieben, warum Lehrer nicht aus ihren Fehlern lernen. Und auch SuS lernen in der Schule vor allem, dass Fehler ein Ausdruck von Schwäche sind: Je mehr Fehler sie begehen, desto schlechter werden in der Regel die Noten. Viele SuS haben deshalb große Angst, Fehler zu machen.
Fehlervermeidung aus Angst vor schlechten Noten und Spott der Mitschüler
Sie fürchten sich dabei nicht nur vor schlechten Noten vom Lehrer, sondern auch vor dem Spott der Mitschüler. Deswegen melden sich zum Beispiele viele SuS in Gesprächen im Plenum nur, wenn sie sich ihrer Sache absolut sicher sind. Die Taktik der Fehlervermeidung ist aber auch schädlich in Phasen des eigenständigen Lernens: Wenn Schüler Angst haben Fehler zu begehen, trauen sie sich weniger Selbständigkeit und Eingeninitiative zu.
In der Schule herrscht also eine Kultur der Fehlervermeidung. Damit gehen viele potentielle Lernanlässe verloren. Denn Fehler können ein Antrieb für die SuS sein, sich durch gezieltes Üben zu verbessern. Übung dient dabei nicht nur der Vermeidung künftiger Fehler, sondern ist auch eine bewährte Lernstrategie. Das lässt sich auch neurologisch begründen: Wissensinhalte im Gehirn sind in Netzwerken abgespeichert. Wissen ist umso besser zugänglich, je besser es in das Wissen-Netzwerk eingebunden ist. Beim Üben werden neurologische Verbindungen wiederholt aktiviert und so gefestigt.
Fehler sind zudem ein hilfreicher Indikator für den Lernfortschritt und die Diagnose von Schwächen, an denen es noch zu arbeiten gilt. Eine genaue Analyse der Fehler kann dabei helfen, den weiteren Lernprozess zu planen. Mit geeigneten Materialien wie Musterlösungen oder Checklisten können SuS dabei auch selbständige ihre Ergebnisse überprüfen und aus ihren Fehlern lernen.
Schüler brauchen individuelles Feedback vom Lehrer
Allerdings fällt es SuS bei komplexen Lernprodukten oft schwer, ihre eigenen Fehler zu identifizieren. Das gilt umso mehr bei Produkten, bei denen es keine eindeutige richtige oder falsche Lösung gibt: Während Musterlösungen bei Mathe-Aufgaben unkompliziert zu erstellen sind, ist eine Musterlösung für eine Gedichts-Interpretation nur schwer realisierbar.
Deshalb ist es wichtig, dass SuS zu möglichst vielen Produkten ihres Lernens regelmäßig ein individuelles Feedback von den Lehrern bekommen. Für solche individuellen schriftlichen oder mündlichen Lerndialoge gibt es aber oft weder Raum noch Zeit in der Schule. Und auch die Korrektur schriftlicher Produkte ist nur sehr eingeschränkt möglich: Die Korrektur-Zeit ist größtenteils damit gefüllt, Leistungsbewertung vorzunehmen. Gerade am Gymnasium verbringen Lehrer sehr viel Zeit damit, Klausuren zu korrigieren, um Noten zu verteilen. Für die Begutachtungen von zu Übungszwecken verfassten Arbeiten bleibt oft kaum Zeit.
Deshalb ist meist eine benotete Prüfung die erste Rückmeldung, die SuS zu ihrem Lernfortschritt bekommen. Natürlich dienen schriftliche Tests auch als Rückmeldung. Aber tatsächlich haben die SuS oft weder die Zeit noch die Motivation sich zu verbessern, weil die nächste Leistungsüberprüfung schon wieder über ein vollkommen anderes Thema geschrieben wird.
Das liegt auch daran, dass in den Schulen getaktet durch die Anforderungen des Lehrplans sequentiell Themen abgearbeitet und Arbeitstechniken durchgenommen werden. Aufgrund der Vielzahl der Themen ist nur sehr selten Zeit für Wiederholungs- und Verbesserungsschleifen, in denen die SuS aus ihren Fehlern lernen könnten. Als Lehrer merke ich immer wieder, dass einige SuS mehr Übungen brauchen. Der Lehrplan zwingt mich aber nicht selten, dennoch im Stoff fortzufahren.
Auch Soft-Skill-Training erfordert Fehler-Analyse
Das gilt natürlich nicht nur für Fachwissen. Dass grundlegende Denkfehler in der Schule kaum behandelt werden, hatte ich ja bereits in einem Artikel aufgezeigt. Aber auch bei den sogenannten Soft-Skills wie Projektarbeit, Lernstrategien, Präsentation oder der Arbeit im Team machen SuS Fehler. Diese können sie aber im Schulalltag nur selten analysieren, um sich zu verbessern.
Ein Beispiel aus der Praxis: Im Projektkurs „Philosophie und Film“ haben die SuS die Aufgabe, einen philosophischen Kurzfilm zu produzieren. Nach dem Dreh waren die SuS selbst unzufrieden mit Ergebnissen. Aber sie waren sich auch sicher: Beim zweiten Mal würde Ihnen ein besserer Film gelingen. Denn jetzt hatten sie verstanden, dass eine vernünftige Zeitplanung und Aufgabenteilung unerlässlich sind. Ihre Einsichten haben die SuS am Ende des Projektes schriftlich festgehalten (siehe Bilder unten). Das Problem: Der Projektkurs ist vorbei, die Note ist gemacht. Wenn die SuS nochmal einen besseren Film drehen wollen, müssen sie das in ihrer Freizeit tun.
Nach einem Projektkurs „Philosophie und Film“ haben Schülerinnen und Schüler ihre Fehler analysiert und zehn Gebote für ein gelingendes Projekt formuliert.
Damit SuS auch in der Schule aus ihren Fehlern lernen können, sollten sie viel öfter Zeit und Anlässe haben, an ihren Fehlern zu arbeiten. Dazu würde aus meiner Sicht beitragen, wenn folgende vier Voraussetzungen erfüllt wären:
1) Positive Fehler-Kultur an Schulen
Menschen müssen lernen, mit Fehlern produktiv umzugehen. Voraussetzung dafür ist eine Lernkultur, in der Fehler nicht als zu vermeidendes Problem, sondern als Lernanlass verstanden werden. Das gelingt nur in einer vertrauensvollen Lern- und Arbeitsatmosphäre, die durch Beziehungspflege auch gezielt gefördert wird. Gefordert ist dabei die gesamte Schulgemeinschaft – auch die SuS. Lehrer sollten aber in jedem Fall mit gutem Beispiel voran gehen: Pädagogen sollten viel öfter zu ihren Fehlern stehen. Dazu gehört es auch Schüler-Feedback einzuholen und auf Verbesserungsvorschläge von SuS einzugehen.
2) Bewertungsfreie Räume
Dass SuS Angst vor Fehlern haben, liegt vor allem daran, dass sie im Prinzip ständig unter Bewertungs-Beobachtung stehen. Insofern sollte es explizit bewertungsfreie Räume geben, in denen SuS sich ausprobieren können und auch Lern-Risiken eingehen.
3) Individualisierung des Lerntempos
Damit ein produktiver Umgang mit Fehlern gelingen kann, braucht es eine Abkehr von dem heute vor allem an Gymnasien noch oft üblichen Einheitstempo in Klassenräumen. Während dem einen Schüler ein bestimmter Aufgabentyp schon nach kurzer Zeit fehlerfrei gelingt, braucht der andere noch einige Übungsschleifen. Das Schulsystem muss sich von der Illusion verabschieden, dass alle SuS am Ende einer Schuljahre oder eines Schuljahres dasselbe können können.
4) Individualisierung der Lerninhalte
Damit SuS produktiv mit Fehlern umgehen, müssen sie motiviert sein, ihre Fehler zu korrigieren. Diese Motivation kann aber nur dann entstehen, wenn sie wirklich intrinsisch motiviert sind, zu lernen. Warum Motivation in unserem standardisierten Schulsystem nur schwer zu realisieren ist, hat Lisa Rosa analysiert. Ihre Fazit: Voraussetzung für motiviertes Lernen – und somit motivierten Umgang mit Fehlern – ist es, „sich direkt am Ort in der Schule den einzelnen Lernenden intensiver zu widmen und deren Bedürfnisse und Fragen ins Zentrum der Lernprozessgestaltung zu stellen.“
Weitere Artikel aus der Reihe „Das Schulsystem macht Schülern das Lernen schwer“
- Übersicht-Artikel: Wie das Schulsystem Schülern das Lernen schwer macht
- Wie der Physik-Lehrplan den Spaß am Lernen verdirbt
- Standardisierung: Lerngehorsam durch Noten-Diktatur
- Selbständiges Lernen: Selbstgesteuert ist nicht autonom
- Woran fächerübergreifender Unterricht scheitert
- Soziales Lernen: Erwachsen werden ist kein Lernziel
- Lerndialoge: Wieso Lehrer nicht mit Schülern reden
- Denken lernen steht in keinem Lehrplan
- Woran digitale Bildung im deutschen Schulsystem scheitert
- Demokratie-Defizit: Schulen formen keine mündigen Bürger
Ich sehe im Umgang mit Fehlern einen wichtigen Beitrag, den das Fach Informatik und speziell das Programmieren darin leisten kann. Klar sind die vier genannten Voraussetzungen schön und für alle Fächer wichtig. Aber ganz konkret heißt Programmieren: Die Schülerin kriegt nach jeder kleinen Änderung sofort Feedback, ob das Programm noch halbwegs funktioniert oder ob grammatische Fehler auszubessern sind. Und immer wieder läuft das Programm zwar, tut aber nicht das, was man sich erhofft hat – dann muss man diese Fehler finden, und das ist ganz normal und die tägliche Arbeit des Programmierers. Hier sehe ich Potential.
Aus meiner Sicht sind Fehler im Unterricht dann besonders fruchtbar, wenn die SuS motiviert sind, diese zu korrigieren. Die beschriebene hohe Motivation zur Fehlersuche und -korrektur im Informatik-Unterricht erlebe ich auch bei Bau-Projekten in Physik, bei denen die SuS ihr Wissen technisch anwenden: Wenn sie Fehler machen, zeigen diese sich sofort durch Defekte und die Schüler sind motiviert, die Ursache zu finden. Dabei setzen sie sich nochmal ganz intensiv mit ihrer Arbeit auseinander.
Daraus kann man sicher auch für andere Fächer ableiten: Es ist sinnvoll darüber nachzudenken, wie man Aufgaben gestalten kann, bei denen die Schüler*innen Fehler machen können, die sie selbständig entdecken können und gerne korrigieren wollen.
Eine gute Analyse der Problemstellung. Nicht ganz Fehlerfrei, aber daraus lernt man ja. Man sollte Fehler begehen, da stimme ich dir zu. Ganz nach dem Motte „What doesn’t kill you makes you stronger.“ Das kann einen manchmal nach einem Höhenflug auch ganz gut Erden.
Problematisch wird es nur, wenn man die eigenen Fehler nicht als Fehler erkennt, sondern das getane als das richtige annimmt. Dafür sollte der Geschützte Schulraum dann da sein.
Wie du schon sagtest, ist die nackte unbegründete schlechte Note der falsche Weg so etwas herzustellen. Individuelle Bewertung ist da wie du ebenfalls schon sagst das richtige Stichwort. Diese kann verschieden aussehen, mit unterschiedlicher Effektivität und Aufwand. Doch ist die Kosten-Nutzen-Analyse hier meiner Meinung nach nicht das richtige den goldenen Weg zu finden. Der liegt viel mehr in der Abwechslung. Eine Vielfalt an Korrekturmöglichkeiten sollte man zur Auswahl haben. Und ich kann von Glück reden in meiner Schullaufbahn dem ein oder anderen positiv Beispiel über den Weg gelaufen zu sein. Dinge wie ausführliche Erwartungshorizonte, individuelle Nachbesprechungen/Textschnippsel, oder auch mal das selber Korrigieren der eigenen Klausur oder der von anderen lassen einen die eigenen Fehler gut erkennen und im besten Fall auch lehren. Und der Kontakt mit anderen Arbeitsergebnissen nimmt einem die Hemmung seine Fehler zu zeigen.
Das ist eine Kompetenz die einem im Leben sicherlich weiter helfen kann, um nicht zu sagen weiter helfen wird. Sich seiner Fehler schneller bewusst zu werden ist etwas was man mit Sicherheit lernen kann. Und Fehler zu erkennen kann ja nur lehrreich sein. So zeigt sich mal wieder das Schule einem so viel mehr als nur den Fächerbezogen Stoff beibringen kann. Es braucht lediglich LuL welches daran interessiert sind etwas mehr zu investieren als die trockene Vermittlung des Lehrplans. Daran kann man sicherlich auch Spaß haben.