Über ein richtiges Lehrer-Leben im falschen Schulsystem

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ schrieb einst Theodor W. Adorno. Dieser eigentlich im Hinblick auf den Kapitalismus formulierte Satz kommt mir immer wieder bei meiner Arbeit als Lehrer in den Sinn. Denn unser Schulsystem hat so viele grundlegende Mängel, dass ich mir oft die Frage stelle, ob es das überhaupt geben kann: ein richtiges Lehrerleben im falschen Schulsystem. Im Laufe der Zeit habe ich einige (Über-)Lebensstrategien entwickelt.

Vor einer Weile fand ich in meinem E-Mail-Post-Fach eine Nachricht einer ehemaligen Schülerin, die ich als Lehrer bis zum Abitur begleitet hatte. Sie berichtete mir in der Mail, wie es ihr seitdem ergangen war. Sie hatte demnach erst einmal kein Studium begonnen, sondern sich erst einmal eine Auszeit genommen:

„Die Zeit bisher habe ich dazu genutzt, um mich weiterhin zu erholen und ich merke, wie es mir immer besser geht ohne den Druck und Stress der Schule. Ich merke auch, dass ich mich verändere, selbstbewusster werde und langsam immer mehr zu dem Menschen werde, der ich früher einmal war.“

Als ich ihre Worte las, empfand ich große Scham: Wie kann es sein, dass unsere Schule dafür sorgt, dass ein junger Mensch erst einmal Zeit braucht, um wieder zu sich selbst zu finden? Und welchen Beitrag hatte ich dazu geleistet? Nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, ein kleines Zahnrad in einem Unrechts-Regime zu sein, das Schüler*innen drangsaliert, statt sie zu bilden.

Umso wichtiger ist es für mich immer wieder aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler (Schüler*innen) auf das Schulsystem zu schauen. Ich habe zum Beispiel im Rahmen Philosophie-Unterrichtes mit Schüler*innen über ihre Sicht auf das Schulsystem gesprochen. Ergebnis der Schulkritik war unter anderem folgendes Schaubild:

Schaubild Schulsystem-Kritik aus Schüler-Sicht

Schaubild Schulsystem-Kritik aus Schüler-Sicht

Das Schulkritik-Netzwerk ist das abstrakte Ergebnis eines sehr persönlichen Austausches. Ich musste damals mehr als einmal schlucken, als die Schüler*innen dabei ihren Frust und ihre Ohnmacht offenbarten:

  • Die einzige Motivation zum Lernen sind oft gute Noten.
  • Schüler*innen stehen unter einem immensen Leistungsdruck, der körperliche und psychische Spuren hinterlässt.
  • Wenn die Schüler*innen sehr gute Leistungen bringen wollen, haben sie sehr wenig Zeit für ihr Interessen und sozialen Kontakte.
  • Schüler*innen verbinden ihre Schulzeit vor allem mit Verpflichtungen und Zwang.
  • Schüler*innen fühlen sich fremdbestimmt von einem System, zu dem sie keine Alternative haben.

In dem Gespräch wurde deutlich: Was die Schüler*innen in der Schule tun, hat wenig mit ihnen zu tun. Was sie spüren, ist eine Form der Entfremdung von sich und ihrer Bildung. Wer aus der Perspektive von Schüler*innen auf das Schulsystem schaut, muss zu dem Schluss kommen: Wir schulden ihnen etwas besseres.

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In diesem Blog versuche ich seit einer Weile zu erläutern, inwiefern systematische Mängel des Schulsystems zu einigen der oben genannten Problemen führen. Aber es wäre zu einfach, nur auf das System zu verweisen und nicht auch die eigene Verantwortung in den Blick zu nehmen. Die Frage, die ich mir daher immer wieder stelle: Gibt es ein richtiges Lehrer-Leben im falschen Schulsystem? Ist es sinnvoll, sich zu engagieren, wenn die Rahmenbedingungen viele Bemühungen zunichte machen? Wäre es nicht vielleicht sogar besser, meine Lehrer-Karriere zu beenden und mich an anderer Stelle für die Gemeinschaft zu engagieren?

Ich habe ja bereits darüber geschrieben, dass ich mir als Lehrer oft wie Sisyphos vorkomme. Ich rolle den Stein bergauf, nur um zu sehen, wie er bald schon wieder herab poltert. Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade weil ich die Rolle des Sisyphos angenommen habe, habe ich mich dafür entschieden, nicht aufzugeben, sondern Wege zu suchen, im Schulsystem ein gutes Leben zu führen. Wie kann es also aussehen, das richtige Lehrerleben im Falschen? Im Folgenden möchte ich meine Strategien beschreiben:

  1. Mensch bleiben
  2. Guter Unterricht
  3. Die eigene Schule verändern
  4. Schüler beteiligen
  5. Sich austauschen und Netzwerke bilden
  6. Rechtliche Spielräume nutzen
  7. Öffentliche Systemkritik
  8. Sich in öffentliche Diskurse über Bildung einmischen
  9. Schlüsselstellen besetzen

Strategie 1: Mensch bleiben

Der Schul-Alltag hat Lehrer*innen und Schüler*innen oft fest im Griff: Wir hecheln auf dem Weg zum Abitur durch einen gefüllten Stundenplan und arbeiten vorgegebene Lehrpläne ab. Dabei ist im System kein echte, persönliche Interaktion zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen vorgesehen. In den Pausen ist nur selten Zeit für ein persönliches Gespräch. Was erschwerend dazu kommt: An weiterführenden Schulen, haben Lehrer oft weit über 100 verschiedene Schüler*innen. Das macht es nahezu unmöglich, zu allen ein persönliches Verhältnis aufzubauen.

Ich merke zudem immer wieder, wie mich das System unter Druck setzt. Getrieben vom Lehrplan, von Terminen und meinem eigenen Anspruch merke ich immer wieder, wie mich das System verbiegt. Und nicht selten gebe ich dann den Druck weiter an die Schüler*innen: Ich bin ungeduldig, unnachsichtig, unfreundlich. Und merke manchmal, dass ich mich tatsächlich verwandele in ein Rädchen des Systems, das ich eigentlich ablehne.

Umso wichtiger ist es sich Zeit füreinander zu nehmen und sich stets daran zu erinnern, dass man es nicht mit kleinen Maschinen zu tun hat. Die Lehrerin Lotta hat es in ihrem Blog treffend beschrieben:

„Ich rede gerne mit meinen Schülern. Auch außerhalb des Unterrichts. Wenn ich den Eindruck habe, dass sie etwas bedrückt, frage ich nach. Ich bohre nicht, zeige aber, dass ich sie sehe. Frage nach ihren Interessen, Träumen, Wünschen. Mache mit ihnen dumme Witze, scherze mit ihnen. All diese kurzen Momente zeigen ihnen, dass da jemand ist, der sie sieht, der ihnen auch zuhört, wenn sie es brauchen.“

Es sind diese kleinen Momente, die verhindern, dass Schulen zu Lernfabriken werden. Mich persönlich erinnert ein Bild von Anne Frank immer wieder daran, dass ich Menschen unterrichte. Zu einem guten Lehrer-Leben gehört dazu, sich Zeit dafür zu nehmen.

Strategie 2: Guter Unterricht

Aber auch jeder Lehrer kann im kleinen anfangen – in seinem eigenen Unterricht. Immer mal wieder höre ich, dass Kolleg*innen behaupten, dass ungeplante Stunden häufig die besten sind. Für mich klingt das immer wie eine Ausrede. Nein, man kann nicht immer perfekt vorbereitet sein. Es ist ein systematischer Mangel, dass Lehrer zu wenig Zeit haben, um guten Unterricht vorzubereiten. Aber: Fehlende Planung ist nichts, womit man kokettieren sollte.

Denn guter Unterricht muss auch gut vorbereitet sein. Die Zeit in Unterrichtsvorbereitung zu investieren, sind wir den Schüler*innen schuldig. Ich verfüge über die Zeit der Schüler*innen. Das geht für mich mit der Verantwortung einher, den Unterricht so gut zu machen, wie ich angesichts der Rahmenbedingungen kann.

Jede Lehrkraft hat in jeder einzelnen Schulstunde die Möglichkeit die Schule etwas besser zu machen: Offene Aufgabenformate, die Spielräume für das Lernen und die Kreativität der Schüler*innen schaffen. Abwechslungsreiche Sozialformen, die Kooperation und Austausch ermöglichen. Bezüge zur Lebensrealität der Schüler*innen, die den Sinn des Stoffes transparenter machen.

Ich möchte nicht aufhören, mich darüber zu ärgern, wenn eine Stunde nicht gut läuft. Ich möchte nicht aufhören, ständig an mir, an meinem Unterricht und an meiner Schule zu arbeiten. Denn das würde bedeuten, dass mir egal ist, was ich tue und für wen ich arbeite. Zu einem guten Lehrer-Leben gehört der Wille, seinen Job so gut wie möglich zu machen – egal, wie die äußeren Bedingen sind.

Strategie 3: Die eigene Schule verändern

Leider ist nicht damit zu rechnen, dass sich in den nächsten Jahren an den maßgeblichen Parametern des Schulsystems etwas verändern wird. Umso wichtiger ist es, jetzt schon vor Ort an der eigenen Schule damit anzufangen, die Verhältnisse zu verbessern. Denn auch unter den Bedingungen des jetzigen Schulsystem sind Veränderungen und Innovationen möglich.

Auch wenn die Schulentwicklung unter den starren Rahmenbedingungen ein komplexes Unterfangen ist, hat doch jede Schule viele Spielräume. Diese auszuloten, erfordert manchmal auch Risikobereitschaft und Frust-Resistenz, denn nicht alles wird gelingen.

Klar ist auch: Nicht jede Lehrkraft hat die Zeit oder die Fähigkeiten, sich an der Schulentwicklung zu beteiligen. Den hier aktiven Lehrer*innen ist aber schon geholfen, wenn der Rest des Kollegiums ihre Arbeit wohlwollend begleitet. Das bedeutet nicht jede Idee kritiklos mitzutragen. Für alle Pädagoge gilt es aber offen zu sein für neue Ideen – auch wenn Veränderungen immer auch Arbeit bedeuten.

Vor allem die digitalen Medien können einen entscheidenden Beitrag leisten, Schule im Sinne der Schüler zu verändern. Es ist abzusehen, dass in den kommenden Jahren Geld zur Verfügung stehen wird. Es ist wichtig, dass Lehrer*innen sich bei der Ausgestaltung der Bildung unter digitalen Bedingungen einbringen.

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Strategie 4: Schüler beteiligen

Wenn man sie ernst nimmt, können Schüler*innen die stärksten Verbündete für eine Veränderung des Schulsystems sein. Voraussetzung dafür ist, die jungen Menschen mit ins Boot zu holen. Dabei reicht es meiner Erfahrung nicht, die Bereitschaft zu signalisieren, dass sie sich beteiligen können. Oftmals sind Schüler*innen es nicht gewöhnt, dass ihre Meinungen wirklich ernst genommen werden. Sie scheuen daher erst einmal davor zurück sich einzubringen: „Ich kann ja doch nichts verändern.“

Umso wichtiger ist es die Schüler-Mitbestimmung zu fördern. Schon jetzt sehen die Schulgesetze relativ große Befugnisse für die Schülervertretungen vor. Wenn man die jungen Menschen aktiviert, wenn man ihnen Rechte zur Partizipation einräumt, wenn man ihnen ihre Spielräume zeigt, können sie dabei helfen Schulen positiv zu verändern. Auch bei der Schülerbeteiligung kann man im kleinen anfangen – zum Beispiel durch regelmäßiges Schüler-Feedback.

Strategie 5: Sich austauschen und Netzwerke bilden

Ob eine einzelne Unterrichtsstunde oder ein vollständiges Medienkonzept – Best-Practice-Beispiele können Leuchtturm-Charakter haben. Sie sind Nachweise dafür, dass ein Lernen auch anders möglich ist. Umso wichtiger ist es gute Ideen weiter zu geben: Nicht jeder muss das Rad neu erfinden.

Teilweise auch aus systematischen Gründen sind dennoch viele Lehrer*innen Einzelkämpfer. Dabei entlastet Team-Arbeit nicht nur, sondern erhöht die Qualität des Unterrichtes: Gemeinsam hat man bessere Ideen und korrigiert schneller Denk- und Planungsfehler. Untersuchungen zeigen zudem, dass Lehrer, die kooperieren zufriedener sind. Und auch bei Problemen kann man sich gegenseitig unterstützen – zum Beispiel durch gegenseitige Unterrichtshospitationen oder kollegiale Fallberatung.

Es muss nicht beim Austausch mit einigen wenigen Kolleg*innen bleiben. Wer gute Ideen hat, kann diese dank digitaler Medien leicht weiter verbreiten. Plattformen wie Twitter oder Facebook helfen dabei, auf einen bundesweiten Pool von Ideen und Best Practice zurück zu greifen. Mit Hilfe von Hashtags wie #BayernEdu oder #EduPnx vernetzen sich Lehrer*innen zum Beispiel bei Twitter. Und Initiativen wie OERinfo oder Edulabs versuchen derzeit, den Gedanken der offenen Materialien zu fördern.

Digitale Plattformen alleine reichen aber nicht – persönliche Begegnungen sind ebenso wichtig. Nützliche Formate um den Austausch zu stärken sind zum Beispiel Barcamps. Dieses Format kann man sowohl schulübergreifend nutzen wie beim Educamp. Aber auch schulinterne Barcamps sind möglich.

Netzwerke müssen allerdings nicht auf persönliche Kontakte begrenzt sein. Auch Schulen können miteinander kooperieren. Reformwillige Schulen können sich Schulverbünden wie „Schulen im Aufbruch“  oder „Blick über den Zaun“ anschließe und gemeinsam an der Revolution von unten arbeiten. Ein gutes Lehrer-Leben muss also kein einsames Leben sein.

Strategie 6:  Rechtliche Spielräume ausnutzen

Ob alleine oder zusammen mit Gleichgesinnten: Wer das Schulsystem im Sinne der Schüler*innen verändern will, sollte auf keinen Fall seine Vorgesetzten fragen, ob er das darf. Denn im Schuldienst gilt: Wer die Vorgesetzten fragt, bekommt oft eine Antwort, die der Logik von Verwaltungs-Richtlinien entspricht. Und diese sollen ja gerade Spielräume einschränken, um Abläufe zu standardisieren.

Praxis-Beispiele dafür, wie man im Labyrinth von Regeln und Vorschriften dennoch kreativ im Sinne der Schüler*innen Schule gestalten kann, beschreiben Reinhard Stähling und Barbara Wenders in ihrem Buch „Ungehorsam im Schuldienst“:

„Dies ist kein Bericht über den Ungehorsam von Lehrerinnen und Lehrern. Es ist ein Bericht über den Respekt für die Interessen und Bedürfnisse der Kinder. Von der Achtung ihrer Rechte. Vom Gehorsam gegen die eigenen Ideale. Und vom Mut.“

Die in dem Buch beschriebenen Praxis-Beispiele zeigen: Oft genügt es schon, nicht zu fragen, ob man irgendetwas darf, sondern es einfach zu tun. Und zu einem guten Lehrerleben gehört es in jedem Fall dazu, alle Richtlinien zugunsten der Schüler*innen auszulegen.

Strategie 7: Öffentliche Systemkritik

Die traurige Realität bleibt: Einigen unsinnigen Vorschriften kann man sich nicht entziehen. Solange das Schulsystem so ist, wie es ist, hat alles pädagogische Schaffen den Charakter eines Workarounds. Viel Energie engagierter Lehrer*innen geht dabei verloren, sinnlose Vorgaben zu berücksichtigen, die der Bildung der Schüler*innen nicht dienen. Insofern muss es langfristig das Ziel sein, das System zu ändern.

Natürlich ist es wichtig, in seinem Tätigkeitsfeld Dinge anzugehen, um die Schule im Sinne der Schüler*innen zu verändern. Solches persönliches Engagement entbindet aber nicht von der Pflicht, Verantwortung für eine Veränderung eines insgesamt mangelhaften Systems zu übernehmen. Eine fatalistische Einstellung á la „Ich kann das System nicht ändern“ stützt die bestehenden Verhältnisse. Aus meiner Sicht gehört es daher zu einem guten Lehrer-Leben, die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren – vor allem auch in der Öffentlichkeit.

Strategie 8: Sich in öffentliche Diskurse über Bildung einmischen

Kritik alleine genügt allerdings nicht. Lehrer*innen müssen auch einen produktiven Beitrag in öffentlichen Diskursen leisten. Dabei gehört es auch dazu, die Gesellschaft darüber aufzuklären, das Unterricht und Schule auch anders sein kann. Viele Menschen haben ein Bild von Schule, das durch ihre eigenen Erfahrungen geprägt ist. Ihnen fehlt die Vorstellungskraft, auch andere Möglichkeiten zu denken. Das gilt übrigens meiner Erfahrung nach auch für Schüler. Dabei gibt es einen großen Schatz reformpädagogischer Praxis-Beispiele, die zeigen, wie es auch anders geht.

In der politischen Diskussion um Bildungsreformen geht es aber so gut wie nie darum, wie man das Schulsystem so verbessern kann, dass Schüler*innen sich wohler fühlen und mit mehr Freude lernen. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der aktuellen Diskussion um die Digitalisierung: Es geht wenig darum, wie die Digitalisierung das Lernen bereichern kann, sondern vor allem um technische Rahmenbedingungen wie den Breitbandanschluss oder die Ausstattung der Räume.

Umso wichtiger ist es, dass sich engagierte Lehrer*innen in die öffentliche Diskurse über die Bedeutung von Begriffen wie Bildung einzumischen und die Deutungshoheit nicht den Lobbyisten der Konzerne überlassen. Dabei ist es wichtig, dass sich möglichst viele Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven einbringen – und sich zum Beispiel Reformpädagogen mit den den Digitalisierungs-Pionieren zusammen tun.

Strategie 9: Schlüsselstellen besetzen

Wenn Lehrer*innen dann doch in öffentlichen Diskursen zu Wort kommen, sind es leider viel zu selten engagierte Pädagogen. Statt dessen werden Vertreter von Verbänden als vermeintliche Repräsentanten befragt. Es ist aber fragwürdig, ob beispielsweise Heinz-Peter Meidinger als Präsident des Deutschen Lehrerverbandes für alle Lehrer sprechen kann; ist er doch Vorsitzender des Philologenverbands, der in erster Linie die Interessen konservativer Gymnasial-Lehrer vertritt.

Dass viel zu oft solche Vertreter von Verbänden statt engagierter Lehrer*innen in Talk-Shows oder auf Podien sitzen, hat seine Gründe. Mein Eindruck ist es, dass gerade die Pädagogen, die mit besonders großem Engagement zur Sache gehen, oft nicht die sind die Karriereleiter in der Verwaltung und den Verbänden hoch klettern.

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Ein Grund dafür: Wer seinen Schülern zuhört, wer guten Unterricht vorbereitet, wer seine Schule mitgestaltet, hat oft keine Zeit sich um seine Karriereplanung zu kümmern. Ein anderer Grund: Besonders engagierte Lehrer*innen haben oft besonders viel Freude an ihrem Beruf. Die Zusammenarbeit mit den Schüler*innen ist das, was ihnen am meisten Freude bereitet. Genau für diese Vollblut-Pädagoginnen ist es kein reizvolle Vorstellung, diese Stunden gegen die Arbeit in Leitungspositionen in Verwaltung und Verbänden einzutauschen.

Aber: Wer etwas verändern will, muss bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Deswegen ist es wichtig, dass mehr der Lehrer*innen den Marsch durch die Institutionen antreten, die sich besonders für Schüler*innen engagieren. Nur wenn auch auf maßgeblichen Stellen in den Schulverwaltungen, Schulleitungen, Fachseminaren und Universitäten Pädagogen mit Herz statt Klassenraum-Flüchtlinge sitzen, wird sich etwas verändern.

Fazit: Nur gemeinsam sind wir stark!

Ich habe versucht einige Möglichkeiten aufzuzeigen, sich für Schüler*innen und ein besseres Schulsystem zu engagieren. Mir ist es aber wichtig abschließend zu bemerken: Niemand kann auf allen Gebieten gleichermaßen aktiv sein. Ich erlebe immer wieder, dass engagierte Lehrer*innen sich untereinander angehen, weil sie unterschiedliche Strategien bevorzugen.

Aber einem Übel kann man am besten zu Leibe rücke, wenn man es von möglichst vielen Seiten angeht. Jeder, der guten Willens ist, kann mit mit seinen Mitteln etwas verändern. Deshalb gibt es aber auch keine Ausreden: Wer nichts tut, muss sich den Vorwurf gefallen zu lassen, dass er dardurch ein System stützt, dass in vielerlei Hinsicht unmenschlich ist.

25 Gedanken zu „Über ein richtiges Lehrer-Leben im falschen Schulsystem

  1. Maik Riecken

    Ich habe eine ähnliche Taktik über mehrere Jahre gefahren und verlasse jetzt schrittweise das System Schule. Es kommt der Punkt, an dem es in den Bereichen, die du kontrollierst, nicht mehr viel zu optimieren gibt und du massiv auf Teamplay angewiesen bist. Das kommt dann – oder nicht.

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  2. Pingback: DISKUSSION: Was ist Bildungsgerechtigkeit? | Bob Blume

    1. D.S. Beitragsautor

      Leider werde ich aus Ihrem Beitrag nicht so recht schlau. Ich stelle doch zahlreiche konkrete Möglichkeiten vor, etwas zu verändern. Ich bin für konstruktive Kritik dankbar. Insofern würde ich mich über eine Präzisierung freuen.

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    1. D.S. Beitragsautor

      Die Schulpflicht dient ja nicht zuletzt dazu, das Menschenrecht auf Bildung zu schützen. Eine Abschaffung der Schulpflicht ist deswegen nicht unbedingt eine Lösung, weil sie auch dazu führen kann, dass Kindern Schulbildung verweigert. Unter anderem deswegen sagt der Artikel 26 der Erklärung der Menschenrechte ja sogar explizit, das Schulunterricht mindestens im Grundschulalter obligatorisch ist.
      Eine Abschaffung der Schulpflicht ist zudem auch derzeit vollkommen unrealistisch. Anstatt also kurze, unrealistische Forderungen zu stellen, schreibe ich seitenlang darüber, was Lehrer*innen im real existierenden Schulsystem unternehmen können, damit Schüler*innen gerne lernen.
      Davon abgesehen: Grundsätzlich würde ich mir einen wertschätzenden Umgang wünschen. Die Herabwürdigung meines ja zumindest gut gemeinten Textes als „obskure Banalitäten“ dient der Sache und einem konstruktiven Diskurs darüber sicherlich nicht.

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      1. Nana

        „Unter anderem deswegen sagt der Artikel 26 der Erklärung der Menschenrechte ja sogar explizit, das Schulunterricht mindestens im Grundschulalter obligatorisch ist.“
        Das ist die deutsche Übersetzung, die von internationaler Seite kritisiert wird. Im Englischen ist von „primary education“ die Rede ohne Hinweis auf den Ort, an dem diese stattfinden soll. Andere Länder schaffen es ja auch, Lernen ohne Schule zu ermöglichen. Sehr Aufschlussreich in dieser Richtung ist das Kapitel „Exkurs über das Recht“ in Anke Caspar-Jürgens; Lernen ist Leben.

        2006 gab es einen Bericht des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, der das deutsche System sehr kritisierte. Es ist die Rede, dass Bedürfnisse und Rechte der Schüler besser geachtet werden sollen, Eltern mehr Rechte bekommen sollen, Bildung nicht auf Schulanwesenheitszwang beschränkt werden soll und Fern-und Heimunterricht möglich sein sollen.

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  3. Hallama

    Süß. Das Bildungssystem braucht eine Revolution auf allen Ebenen – das geschieht nicht durch „persönliches Engagement“. Das Problem steckt schon in der Klassengesellschaft (also einem Bereich auf den sie gar keinen Einfluss haben und wohl nie bekommen werden), in der freien, „sozialen“ Marktwirtschaft, welche das Bildungssystem komplett durchdrungen hat. Zusätzlich gibt es noch großen Einfluss von veralteten pädagogischen Vorstellungen und christlichem Snobismus. in BRD herrscht die Vorstellung vor, dass man Bildung von Bürokraten machen lassen kann, welche strikte Pläne in ihrem Elfenbeinturm kreieren. Und den meisten schmeckt das. Das „kriegt man nicht so einfach raus“. Aber danke für den Versuch an dieser Stelle.

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    1. D.S. Beitragsautor

      Sicherlich ist ein Schulsystem immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Ich wüsste aber keinen besseren Ort, mit einer von ihnen offensichtlich gewünschten Veränderung der Gesellschaft zu beginnen als in den Schulen. Deswegen mache ich mir ja Gedanken darüber, was ich persönlich tun kann. Wie gesagt: Es ist einfach die Schuld auf das System zu schieben, doch verändern wird sich nur etwas, wenn wir alle im Rahmen unserer Möglichkeiten etwas dafür tun. Dabei habe ich ja ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es auch wichtig ist, Schlüsselstellen zu besetzen (siehe Strategie 9).

      Übrigens: Ich würde mir wünschen, dass in unserer Gesellschaft das persönliche Engagement einzelner Menschen nicht mit Vokabeln wie „süß“ herab gewürdigt würden. Dieses Phänomen trägt genauso dazu bei, dass Menschen ihr Engagement fürs Gemeinwohl aufgeben, wie die systematischen Hindernisse.

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  4. R.

    Ein ganz toller Beitrag!
    Tiefgründig und reflektiert versuchen Sie für reale LehrerInnen Möglichkeiten innerhalb des Systems zu zeigen. Und schlussendlich auch wie man das System realistisch verändern kann.

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  5. var_me

    Ich kann jede Ihrer Aussagen unterstreichen und wünsche Ihnen alles Gute! Sie sind ein optimistischer Realist, ich ein pessimistischer – das macht den entscheidenden Unterschied in diesem Beruf.
    Für mich sind die Antinomien, unter denen Lehrer handeln müssen (vgl. Helsper) nicht in einer Balance zu halten. Ich reibe mich zu sehr an den Systemfehlern, sodass ich froh bin, einen anderen Weg für mich gefunden zu haben. :-)
    Es wäre wirklich mal ein interessantes Thema, warum Lehrer den Beruf verlassen. Glaube, da geht dem Bildungssystem viel verloren.

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    1. I.T.

      Var_me Sie sprechen mir aus der Seele…. Ich wurde nach jahrelanger Berufserfahrung ohne zweites Staatsexamen anschließend im Referendariat für gemeinhin als systemunfähig degradiert und bin nun meinem Ruf gefolgt, Schule aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu dürfen. Ich erarbeitete mir die wissenschaftliche Grundlage für die Behauptung Rechenschwäche würde, insbesondere durch eine Vielzahl an völlig ungeeignetem didaktischen Material, überhaupt erst in der Schule provoziert (an dieser Stelle sei an das Zitat der 98% Neugeborener als Hochbegabte, die mit Schuleintritt oder kurze Zeit später auf 2% sinkt von dem Neurowissenschaftler G. Günther verwiesen). Eine so unvorstellbare Behauptung belegen und anhand aktuellster wissenschaftlicher Forschungsergebnisse begründet zu verbessern, ist mein aktiver Beitrag.

      Diese Entwicklung meiner beruflichen Laufbahn heilt meine einstigen Wunden. Somit darf ich verängstigte Kinderseelen heute wirklich heilen, wenn ihnen die Freude an der Mathematik genommen worden war. Denn ich bringe ihre Augen wieder zum Leuchten und entfache das Feuer ihrer Neugier erneut und nachhaltig.

      Danke für den anregenden Beitrag D.S., obgleich mein Weg in größter Distanz zum System bleiben wird. Meine eigenen Kinder je fremdbetreuen gar im deutschen Regelschulsystem beschulen zu lassen, entspricht mir ebenso wenig wie André Stern, jedoch suche ich noch nach der Legalisierung dieses Vorhabens. Einen für mich wegweisenden Bericht fand ich letzten hier: http://diekleinebotin.at/2017/12/08/interview-andre-stern/

      Ich bin dankbar für die vielen anregenden Beiträge und Kommentare.

      Antworten
  6. Heidemarie Brosche

    Habe den Artikel mit großer innerer Beteiligung gelesen. Bin selber seit 1977 Lehrerin (also nicht mehr allzu lange) und schlage mich seit Jahrzehnten mit denselben grundsätzlichen Fragen herum. Arbeite allerdings an der bayerischen Mittelschule (= Hauptschule).
    Unter den Kommentaren habe ich mit Befremden – neben den wertschätzenden – auch sehr abschätzige gefunden, gegen die Sie als Beitragsautor sich erfreulicherweise wehren. Mein Befremden gilt nicht einer kritischen Haltung, sondern eindeutig herabwürdigenden Formulierungen.
    Zu Ihrer Strategie 8: Ich hatte gestern in der SZ einen Artikel in SCHULE und HOCHSCHULE: „Die da unten, die da oben“. Auch dies ein Versuch, sich einzumischen und Stellung zu beziehen.
    Zu Ihrem Thema „Kritik am Schulsystem“: Ich arbeite gerade mit meiner AG Schülerzeitung an genau DIESEM Thema. Was wir da erarbeiten, soll nicht nur in unserer Schülerzeitung, sondern auch in einer Eltern-Zeitschrift erscheinen. Hätten Sie Interesse daran, die Kritikpunkte Ihrer Schüler mit einfließen zu lassen und somit noch „öffentlicher“ zu machen?
    Ich würde mich über Kontakt und Austausch sehr freuen.
    Heidemarie Brosche

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  7. ***

    Vielen lieben Dank dafür – Sie sprechen mir aus dem Herzen <3
    Nur etwas fehlt mir noch: Stichwort Lehrergesundheit (Supervision, Psychohygiene) – Ich selbst war zehn Monate out of order, weil meine Visionen zu groß waren…

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  8. Thorsten Krischke

    Zunächst einmal vielen Dank, dass ich an ihren Gedanken teil haben durfte. Vieles davon kenne ich als Lehrer von mir selbst auch.

    Die teilweise doch recht radikale Kritik in einigen der Kommentare teile ich jedoch nicht. Die Schulpflicht beispielsweise halte ich für eine großartige Errungenschaft. Wenn man in Länder sieht, in denen nicht alle Kinder in die Schule gehen dürfen, findet man wohl kaum Argumente, weshalb es dort besser sein sollte. Auch Haus- oder Fernunterricht sehe ich eher kritisch. Denn die wirklich wichtigen Dinge lernt man meines Erachtens in der Gemeinschaft zwischen den Unterrichtsstunden. Und es schadet auch nichts, die elterliche Blase dazu zu verlassen.

    Dennoch bin ich mit vielem, das unsere Bildungspolitker proklamieren, nicht einverstanden. Wobei ich ihre zehn Punkte für mich auf einen verkürzt habe: Ich möchte meine Schülerinnen und Schüler ernst nehmen.

    Manchmal gibt es natürlich trotzdem Tage, an denen aus meinen üblichen Zweifeln (die Schüler ernst zu nehmen bedeutet eben auch, sich selbst ständig zu hinterfragen) Verzweiflung wird. Dann helfen mir aber häufig die Rückmeldungen ehemaliger Schüler, die mir immer wieder zeigen, dass meine Begleitung ihnen auf dem Weg zum selbstständigen Erwachsenenleben doch ein klein wenig geholfen hat und dass meine Arbeit genau deshalb absolut ihren Sinn hat!

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  9. Sarah

    Mich beschäftigen schon immer sehr ähnliche Gedanken, obwohl ich gerade erst richtig eingestiegen bin. Ich bin sehr dankbar für Ihren Artikel und ehrlich erschüttert darüber, wie und was manche hier kommentieren. Ich bin gerne Lehrerin und will eine gute Lehrerin sein. Ich arbeite gerne mit Schülern und kann schnell eine gute Beziehung zu ihnen aufbauen und ich möchte sie dabei begleiten, wie sie die Welt erkunden und sich bilden. Aber auch ich habe das Gefühl, dass dies durch das System Schule so nicht funktioniert und ich in meiner eigentlichen Aufgabe durch starre Vorgaben und Leistungsansprüche an die Schüler stark eingeschränkt bin. Ich stehe so häufig in der Schule und denke: „Was machen wie hier eigentlich mit unseren Kindern?“. Vor allem der Film Alphabet hat mich damals sehr erschüttert und in diesem Gefühl weiter bestärkt (Empfehlung an dieser Stelle an alle, die ihn nicht kennen). Aber was ist die Konsequenz? Den Beruf fallen lassen, obwohl man das Gefühl hat, für die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen geschaffen zu sein? Das Feld denen überlassen, die das System hinnehmen wie es ist oder es für ok/gut befinden und keine Veränderung für nötig befinden? Ich finde das den falschen Weg und finde Ihren Ansatz genau richtig. Natürlich bewirke ich als einzelner Lehrer nicht die Revolution, die das Schulsystem so dringend benötigt. Aber ich kann Verbesserungen im Kleinen schaffen. Warum wird das als süß und lächerlich abgetan? Es ist wie bei so vielen Problemen (Beispiel Klimaschutz: „Nur weil du auf das Auto verzichtest, rettest du wohl kaum die Welt“!), es müssen möglichst viele Leute mit aufspringen, im Kleinen anfangen, sich Gehör verschaffen. Darum geht es doch. Dem Schulsystem gänzlich den Rücken kehren und darauf hoffen, dass das Problem sich irgendwann irgendwie löst ist doch ein viel unbefriedigenderes Gefühl, als das Gefühl, wenigstens dazu beizutragen, dass sich etwas verbessert. Und sei es nur im eigenen Unterricht, an der eigenen Schule.

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