Bei der Digitalisierung der Schulen gibt es zwei öffentlichkeitswirksame Meinungspole: Kritiker wie Manfred Spitzer würden die Smartphones am liebsten ganz aus den Schulen verbannen. Enthusiasten dagegen treiben die Digitalisierung der Schulen voran – nicht zuletzt getrieben durch die Lobbyisten der IT-Konzerne. Diese Polarisierung trägt dazu bei, dass eigentlich zentrale Probleme zu selten in den Blick genommen werden. Eine Übersicht über Fragen zur Digitalisierung in Schulen, über die wir dringend diskutieren müssen.
Klimaschutz und Migrationspolitik haben in den vergangenen Jahren die politische Agenda bestimmt. Was beide Themen vereint: Die Diskurse waren und sind stark polarisiert – insbesondere in den sozialen Medien. Nur selten scheint es in den Auseinandersetzungen darum zu gehen, sich zu verständigen und gemeinsam Lösungen zu finden. Im Gegenteil: Oft werden statt Argumenten Beleidigungen ausgetauscht. Die fehlende Diskussionkultur erschwert es massiv, zu Kompromissen zu kommen, die von einer breiten Mehrheit getragen wird.
Ähnlich polarisiert ist manchmal auch die Diskussion um die Digitalisierung in den Schulen. Dies war jüngst zum Beispiel zu beobachten bei bei der Jahrestagung des Fachverbandes Philosophie – des Berufsverbandes der Philosophielehrer*innen in NRW. Dort kamen zwei meinungsstarke Antipoden im Umgang mit der Digitalisierung zu Wort: Stefan Lorenz Sorgner ist Philosophie-Professor und sieht als Vordenker des Transhumanismus Digitalisierung als große Chance für die Menschheit und möchte ihr möglichst wenige politische Grenzen setzen. Ralf Lankau, Professor für Professor für Mediengestaltung und Medientheorie, würde dagegen am liebsten alle Smartphones komplett aus den Schulen verbannen.
Auch auf anderen Veranstaltungen und in den Medien rund um das Thema Digitalisierung kommen oft entweder Digital-Enthusiasten oder Digital-Kritiker zu Wort. Durch die Polarisierung kommt der eigentlich nötige Diskurs auch hier oft zu kurz. Darauf wiesen zuletzt zum Beispiel Philippe Wampfler und Dejan Mihajlovic in einer Kolumne auf dem „Deutschen Schulportal“ hin:
„Es gibt drei Positionen in der Diskussion um Bildung in der digitalen Kultur: Die euphorische geht davon aus, dass Digitales den Unterricht in praktisch jeder Hinsicht verbessert – allein dadurch, dass es eingesetzt wird. Die pessimistische sieht im Digitalen eine umfassende Bedrohung für die Bildung: Sie schade Kindern, verleite zu Oberflächlichkeit und ersetze pädagogisch bewährte Überlegungen durch technologische Spielereien. Die dritte Position ist eine kulturpragmatische: Sie nimmt das große Ganze in den Blick, beschreibt konkrete Phänomene, prüft Argumente kritisch – und ist doch aufgeschlossen und fordernd. Diese letztere Haltung erhält in Diskussionen über die Bedeutung einer Kultur der Digitalität für Schulen und Unterricht zu wenig Gewicht. Sie wird außerhalb von Nischen im Netz wenig wahr- und eingenommen, unter anderem auch, weil differenzierte Betrachtungen in der Regel nicht belohnt werden.“
Mihajlovic und Wampfler haben deshalb gemeinsam mit Axel Krommer, Martin Lindner und Jöran Muuß-Meerholz ein Buch unter dem Titel „Routenplaner Digitale Bildung“ veröffentlicht. Solche differenzierten Betrachtungen leiden aber unter der beschriebenen Polarisierung: Um eindeutig Stellung beziehen zu können, muss man meist die Argumente der Gegenseite ausblenden.
Ein gutes Beispiel ist Manfred Spitzer, der wohl bekanntesten Vertreter der Anti-Digitalisierungs-Front. Kritiker werden ihm vor, bei der Stützung seiner Thesen eine sehr einseitige und oberflächliche Auswahl von Studien zu Rate zu ziehen. Aber auch Digitalisierungs-Enthusiasten, die als Speaker derzeit von einem zum nächsten Event tingeln, thematisieren nur äußerst selten in ihren Vorträgen Risiken der Medien-Nutzung, Probleme beim Datenschutz oder die bedrohliche Macht der Konzerne.
Diese eingeschränkte Darstellung des Sachverhaltes sorgt meiner Wahrnehmung nach dafür, dass in der Diskussion blinde Flecken entstehen – sowohl bei Digitalisierungs-Kritikern wie bei den den -Enthusiasten. Mit erscheint es hilfreich, die unbequemen Fragen in den Blick zu nehmen, die beide Seiten jeweils ausblenden. Denn genau das sind aus meiner Sicht die offenen Fragen, die eigentlich geklärt werden müssten, um tragfähige Lösungen bei der Digitalisierung in den Schulen zu finden. Dieser Artikel ist der Versuch ausgehend von den blinden Flecken einige dieser Fragen herauszuarbeiten.
Die blinden Flecken der Digitalisierungs-Kritiker
Der Archetyp der Digitalisierungs-Kritiker ist sicherlich Manfred Spitzner. Mit ihm zusammen haben sich weitere Wissenschaftler wie der oben genannte Ralf Lankau zum „Bündnis für humane Bildung“ zusammen geschlossen. In Vorträgen weisen sie auf die Gefahren und Probleme bei der Digitalisierung hin. Dies ist für sich genommen nicht problematisch, auffällig ist aber, dass in Büchern, Vorträgen oder Interviews die Vorzüge von Medienbildung und Digitalisierung und Schulen so gut wie gar nicht thematisiert werden. Ich habe versucht, einige der offenkundigsten blinden Flecken zu beschreiben, die ich wahrgenommen habe:
Blinder Fleck: Smartphones gehören in die Schulen, um negativen Auswirkungen übermäßigen Medienkonsums zu begegnen.
Geht es nach Manfred Spitzer, gibt es derzeit eine „Smartphone-Epidemie“ – so lautet zuimindest der Titel eines seiner Bücher. Darin beschreibt er die „Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft“. Auch wenn Spitzers Thesen einer Analyse kaum Stand halten, ist unzweifelhaft, dass übermäßige Mediennutzung jungen Menschen nicht immer gut tut. So empfiehlt etwa der Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, dass Kinder erst frühestens ab einem Alter von elf Jahren ein Handy bekommen sollten.
Die entscheidende Frage ist aber, wie Schulen auf übermäßigen Mdienkonsum reagieren sollen. Hardliner wie Spitzer oder Lankau plädieren dafür, Smartphones komplett aus der Schule zu verbannen. Sinnvoller erscheint es mir, dass Lehrer*innen ihre Schüler*innen dabei unterstützen ein adäquates Medienverhalten zu entwickeln. Sie müssen lernen, welche Apps für ihr Lernen hilfreich sein können und wann es für ihr Lernen sinnvoll ist, ihr Handy auszuschalten.
Es ist natürlich eine Möglichkeit, dass Lehrer zu Beginn der Stunde die Handys der Schüler*innen in der Handy-Garage deponieren. Wenn Bildung aber bedeutet, Schüler*innen zur Autnomie zu verhelfen, erscheint es mir sinnvoller, dass Schüler*innen selbständig zu Beginn der Stunde ihre Handys ausschalten, weil sie verstanden haben, dass die Geräte sie in bestimmten Kontexten ablenken. Und dass sie das auch zu Hause tun. Einen solchen verantwortungsvollen Umgang erlernen Schüler*innen besser, wenn sie ihr Smartphone in der Schule dabei haben und seine Nutzung dabei regelmäßig kritisch reflektieren.
Die Frage, die wir diskutieren sollten: Wie können wir Schüler*innen zu einem verantwortungsvollem Umgang mit digitalen Medien erziehen?
Blinder Fleck: Digitalisierung bietet Chancen für konstruktives Lernen.
Es ist unsere Verantwortung als Lehrer*innen das Lernen möglichst so zu gestalten, dass die Schüler*innen effektiv, effizient und vor allem schülergerecht lernen. Dazu gehört es sicherlich auch, negative Auswirkungen von digitaler Technik auf das Lernen zu analysieren. Es gilt aber auch die Potentiale genau zu analysieren; das tun die Kritiker selten und verweisen dabei oft auf fehlenden Mehrwert. Dabei wird aber oft ausgeblendet, dass es nicht darum geht das bisherige Lernen einfach nur digital zu gestalten. Darauf hat zum Beispiel Axel Krommer hingewiesen:
„Der Mehrwert digitaler Medien besteht daher keinesfalls darin, alte Ziele schneller, einfacher, besser, nachhaltiger etc. zu erreichen. Ihr Wert besteht vielmehr darin, als konstituierende Formen die Zieldimensionen des Unterrichts signifikant zu erweitern.“
Statt darüber zu diskutieren, ob digitalen Medien eingesetzt werden sollen, ist es entscheiden in den Blick zu nehmen, wie sie eingesetzt werden. Ich habe in älteren Artikeln zum Beispiel schon versucht aufzuzeigen, inwiefern digitale Medien dabei helfen können, reformpädagogische Ideale zu fördern oder die Demokratie-Bildung zu stärken.
Die Frage, die wir diskutieren sollten: Wie können wir digitale Werkzeuge einsetzen, um das Lernen der Schüler*innen effizienter, reich- und nachhaltiger und vor allem schülergerechter zu gestalten?
Blinder Fleck: Digitale Kompetenzen sind auch Kulturtechniken.
Es ist eines der zentralen Argumente vieler Digitalisierungs-Kritiker, dass die übermäßige Nutzung digitaler Geräte zentrale Kompetenzen wie Lese- und Schreibkompetenz reduziert. Tatsächlich ist vor allem die Lesekompetenz eine entscheidende Kulturtechnik, die nicht zuletzt auch eine notwendige Grundlage ist, um Online-Quellen auszuwerten. Insofern ist es unzweifelhaft, dass der Förderung von Lesen und Schreiben weiterhin hohe Bedeutung hat.
Wer zu diesem Zweck digitale Geräte komplett aus den Klassenzimmern verbannen will, vergisst aber, dass die Digital-Kompetenzen selbst als Kulturtechnik gesehen werden können, die es zu fördern gilt. Hörenswert ist in diesem Zusammenhang eine aktuelle Folge des Podcast Edukativ.fm, in dem Jöran Muuß-Meerholz mit Philippe Wampfler über Kulturtechniken im Zeitalter der Digitalisierung spricht.
Selbst wenn man digitale Kompetenzen nicht in eine Reihe mit den klassischen Fertigkeiten Schreiben, Lesen, Rechnen stellen will, muss man doch berücksichtigen, dass sich auch diese klassischen Kulturtechniken durch die Digitalisierung stark verändern, wie Jöran Muuß-Meerholz in seinem Blog anmerkte:
„Die traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen ändern sich laufend, schon immer, aber gerade jetzt im und durch den digitalen Wandel. Wenn man diesen Wandel der Kulturtechniken aufgreift und in Bildungszielen und Bildungshandeln umsetzt, dann könnte man auch die vierte Kulturtechnik darin aufgehen lassen.“
Umso wichtiger ist es, genau zu analysieren, wie die Digitalisierung unsere Kultur verändert. Felix Stalder beschreibt in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität als drei grundlegende Formen der Digitalität (eine genauere Erläuterung liefert zum Beispiel die Rezension des Buches bei Netzpolitik.org.
Unabhängig davon, ob man Stalders Analyse teilt, scheint es doch unzweifelhaft, dass die Digitalisierung unsere Kultur nachhaltig verändert hat. Schulen müssen auf diesen gesellschaftlichen Wandel reagieren.
Die Fragen, wie wir diskutieren sollten: Welche zentralen Kulturtechniken müssen Schüler*innen für ein Leben in einer digitalen Welt beherrschen und wie lassen sich diese fördern?
Blinder Fleck: Schule muss Kinder auf ein Leben in einer digitalisierten Welt vorbereiten.
Digitalisierungs-Kritiker verkürzen die Digitalisierung viel zu oft auf die Nutzung von Tablets und Beamer im Klassenraum. Es erscheint aber fahrlässig, Digitalisierung auf Geräte zu reduzieren. Denn tatsächlich handelt es sich eben nicht, um die nächste pädagogische Sau, die durch die Lehrerzimmer getrieben wird, sondern um einen fundamentalen gesellschaftlichen Transformationsprozess. Es gibt so gut wie keinen Lebensbereich, den die Digitalisierung nicht nachhaltig verändert hätte. Die Auswirkungen des Leitmedien-Wechsels auf Gesellschaft und Schule beschreibt zum Beispiel Beat Döbelli in seinem Buch „Mehr als 0 und 1 – Schulen in einer digitalisierten Welt“, aus dem auch diese Grafik stammt.
Es erscheint unstrittig, dass Bildung Schüler*innen auf ihr Leben vorbereiten soll. Das ist aber unmöglich, wenn in den Schulen die fortschreitende Digitalisierung der Welt ausgeblendet wird. Digital-Verächter sagen aber oft wenig dazu, wie sie denn eine Auseinandersetzung mit den Herausforderung fördern wollen, wenn sie alle Geräte aus der Schule verbannen. Soll das rein theoretisch passieren?
Erfolgversprechender erscheint eine handlungsorientierte Medienpädagogik, die aktive Nutzung von Medien mit einer kritischen Reflexion paart. Insofern ist der beste Weg, Medien in den Unterricht einzubinden, wie Bob Blume in einem Blog-Beitrag feststellt:
Der wichtigste Mehrwert digitaler Medien ist die Tatsache, dass neben der inhaltlichen Auseinandersetzung eine bewusste oder unbewusste Auseinandersetzung mit den Prozessen der digitalen Wirklichkeit geschieht. Wird mein Unterricht besser? Nein. Wird er schneller? Nein. Werden dieselben Ziele einfacher erreicht? Nein. Aber die Schüler haben den „Mehrwert“, dass sie bei dem, was sie tun, über das Handeln einer Welt reflektieren, die Teil ihres Tages, aber oftmals nicht der Schule ist.
Ein Einsatz von Medien im Unterricht sollte also immer gepaart werden mit einer echten Auseinandersetzung und kritischer Reflexion. Ein Verständnis von Algorithmen kann dann zum Beispiel nicht nur dazu führen, dass mehr junge Menschen auf den leergefegten Arbeitsmarkt für IT-Spezialisten strömen. Sondern so vermittelte Programmier-Kenntnisse können auch dabei helfen, zu durchschauen, wie durch Algorithmen gesteuerte Manipulation funktioniert oder wie neuronale Netze vorhandene Vorurteile und Missstände reproduzieren.
Das Dagstuhl-Dreieck kann als Richtschnur dienen, um eine Medienpädagogik zu gestalten, die alle Perspektiven mit einbeziehen. Mehr zur Bedeutung und Genese des Dagstuhl-Dreiecks findet man in Beat Döbellis Blog. In einer Darstellung vereint es drei Perspektiven auf die digitale Welt, die sich nicht voneinander trennen lassen:
- Anwendungsbezogene Perspektive: Wie nutze ich das?
- Technologische Perspektive: Wie funktioniert das?
- Gesellschaftlich-kulturelle Perspektive: Wie wirkt das?
Die Frage, die wir diskutieren sollten: Wie können wir Medienpädagogik so gestalten, dass sie alle Perspektiven des Dagstuhl-Dreiecks einbezieht?
Blinder Fleck: Medienbildung ist eine wichtige Grundlage für ein autonomes Leben in einer demokratischen Gesellschaft.
Einen eindrücklichen Nachweis dafür, dass die Digitalisierung unsere Demokratie verändert hat, liefert ein vor einem Jahr noch eher mäßig bekannter Youtuber mit blauen Haaren. Rezos Video „Die Zerstörung der CDU“ wurde inzwischen mehr als 16 Millionen mal aufgerufen und brachte die CDU in Erklärungsnot. Dieses Beispiel zeigt, wie sich durch die sozialen Medien die Machtverhältnisse verschoben haben. Tatsächlich ist auch die globale Jugendbewegung „Fridays for future“ ohne den Einfluss sozialer Medien schwer zu denken.
Die Beispiele zeigen, dass digitale Medien dazu beitragen können, dass sich junge Menschen in die Politik einbringen. Umso wichtiger ist es, die Schüler*innenzu befähigen, die Technik nicht nur zur Unterhaltung, sondern für politische Zwecke zu nutzen. Auch dies ist durch eine handlungsorientierte Medienpädagogik aus meiner Sicht am besten möglich.
Diese Förderung ist nicht zuletzt auch deshalb wichtig, damit die jungen Menschen sich auch für die Gestaltung der digitalen Welt engagieren. Felix Stalder beschreibt in seinem bereits zitierten Buch „Kultur der Digitalität“ zwei mögliche Richtungen des Politischen in der Digitalität: Einen Weg der Postdemokratie, in dem Konzerne und Staaten das einst freie Netz unter ihrer Gewalt bringen. Und einen Weg der Commons, in dem die Chancen der digitalen Welt dank Open Source, Open Data und Creative-Commons-Lizenzen der Allgemeinheit zur Verfügung stehen.
Welchen Weg unsere Gesellschaft gehen wird, wird nicht zuletzt auch von der jungen Generation abhängen, für die die digitale Welt Teil ihres natürlichen Habitats ist. Umso wichtiger ist es, die Kompetenzen zu fördern, die sie als Bürger zur Teilhabe und zur Verteidigung der Demokratie brauchen.
Die Frage, die wir diskutieren sollten: Wie können wir die Fähigkeiten zur (digitalen) Partizipation fördern?
Die blinden Flecken der Digitalisierungs-Befürworter
Genauso einseitig wie die Digitalisierungskrititker um Spitzer stellen auch manche Digitalisierungs-Enthusiasten die Digitalisierung in Schulen dar. Ihr Wahlspruch könnte der im wahrsten Sinne des Wortes der FDP-Slogan aus dem Bundestagswahlkampf 2017 sein: „Digitalisierung first, Bedenken second“ sein. Auch sie haben blinde Flecken:
Blinder Fleck: Wenn die Schulen Medienkompetenzen fördern sollen, müssen andere Inhalte wegfallen.
Nicht nur der Digitalpakt zeigt: Die Politiker haben erkannt, dass Schulen Schüler*innen auf dem Weg in eine digitale Welt begleiten müssen. Laut dem Strategiepapier der Kultusministerkonferenz zur „Bildung in der digitalen Welt“ soll die Förderung der Medienkompetenzen im Fachunterricht erfolgen. Natürlich kann man Medienbildung mit anderen Inhalten verbinden. Aber das ist kein Nullsummenspiel: Schüler*innen können während ihrer Schulzeit nicht zusätzliche Medienkompetenzen erwerben, ohne dass dabei Fachkompetenzen leiden. Das ist kein Beinbruch: Was Schüler*innen in der Schule lernen, hat sich im Laufe der Zeit immer verändert. Es ist aber schon bemerkenswert, dass in dem Strategiepapier keine Rede davon ist, was im Gegenzug weg fallen soll.
In NRW wurden in den neuen Curricula für G9 die Medienkompetenzen fest verankert. Eine Kürzung der inhaltlichen Kompetenzen ist aber meiner Wahrnehmung nach nicht erfolgt. Dies ist nicht zuletzt deshalb fragwürdig, weil das zusätzlichen Druck auf Lehrer*innen und Schüler*innen aufbaut, um zusätzlich zu den Fachinhalten noch Medienkompetenzen zu vermitteln. Und letztlich dient es auch nicht einer fundierten Bildung: Wer alles unter einen Hut bringen will, wird keiner der Anforderungen gerecht.
Nicht zuletzt weil immer mehr Anforderungen an die Schulen heran getragen werden, ist es an der Zeit die Curricula deutlich zu entschlacken und sich die Frage zu stellen, was Bildung im 21. Jahrhundert sein könnte.
Die Frage, die wir diskutieren sollten: Welche Inhalte und Kompetenzen wollen wir in den Schulen kürzen, um mehr Zeit für die Förderung von Medienkompetenzen zu haben.
Blinder Fleck: Digital ist nicht immer besser.
Es ist eine Binsenweisheit aber muss immer wieder betont werden: Digital ist nicht immer gut oder besser. Wenn man bestimmte Lern-Apps genauer untersucht, folgen sie Prinzipien, die einer schülergerechten Bildung widersprechen, wie Axel Krommer heraus gearbeitet hat:
„Anstatt zeitgemäßes, offenes, kollaboratives Lernen und Lehren zu ermöglichen, werden Formen des traditionellen Unterrichts in ein digitales Mäntelchen gehüllt: Schlechter Frontalunterricht ist für Schüler(innen) plötzlich ubiquitär-mobil via YouTube verfügbar und die behavioristisch-fremdgesteuerte Trias aus Reiz, Reaktion und Rückmeldung feiert in Gestalt von Kahoot, LearningApps und Learning Snacks palliative Urstände.“
Digitale Medien sollten daher immer auch darauf geprüft werden, inwiefern sie wirklich einer echten Bildung dienen. Bei der Prüfung muss man aus meiner Sicht nicht auf neue Standards wie die von Unternehmen in die Welt gesetzten 4K oder Konstruktionen wie den Begriff der „zeitgemäßen Bildung“ zurückgreifen. Ich habe schon vor einer Weile versucht zu zeigen, dass sich klassische Bildungs-Ideale durchaus gut in die digitale Welt überführen lassen, und so weiter als bewährte Bildungs-Richtschnur dienen können.
Die Frage, die wir diskutieren sollten: Welche digitalen Anwendungen fördern Bildung?
Blinder Fleck: Die Macht der großen IT-Konzerne ist eine Bedrohung.
Es ist auffällig, wie empfindlich einige Kolleg*innen im Twitterlehrerzimmer darauf reagieren, wenn kritisiert wird, dass sich Lehrer*innen von Unternehmen als „Apple Distinguished Educator“ oder „Microsoft Innovative Educator Expert“ zertifizieren lassen. Denn insbesondere die großen amerikanischen IT-Konzerne spielen bei der Gestaltung der digitalen Welt eine fragwürdige Rolle. Einen Einblick in die Machenschaften der Konzerne liefert seit Jahren die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff – zuletzt in ihrem Werk „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“.
Nicht zuletzt der Skandal um Cambridge Analytica hat uns vor Augen geführt, dass die großen IT-Konzerne in erster Linie ihre Geschäftsinteressen im Blick haben. Wie groß das Manipulationsrisiko ist, bleibt aufgrund der fehlenden Transparenz vollkommen unklar. Klar ist: Intransparente Algorithmen entscheiden darüber, welche Informationen wir bei Google finden oder welche Nachrichten bei Facebook angezeigt werden. Die Konzerne können so immensen Einfluss nehmen. Nicht zuletzt deshalb forderte etwa der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck eine öffentlich-rechtliche Alternative zu Facebook.
Derzeit sind Schulen allerdings oftmals auf die Nutzung kommerzieller Plattformen angewiesen, wenn sie Digitalisierung in ihren Unterricht einbinden wollen. Umso wichtiger wäre es, dass für Lehrer*innen und Schüler*innen staatliche Plattformen als Alternativen zur Verfügung stehen. Die peinlichen Pannen bei der Entwicklung von öffentlichen Lernplattformen wie Ella in Baden-Württemberg und Logineo in NRW sind umso bedauerlicher. Eine Ausnahme bildet derzeit Mebis in Bayern.
Eine Abhängigkeit entsteht jedoch nicht nur bei der Software, sondern auch bei Hardware. So werden derzeit zahlreiche Schulen mit iPads geflutet. Es gibt ohne Zweifel gute Gründe für die Nutzung der Tablets von Apple. Gleichzeitig begeben sich Schulen aber auch in eine Abhängigkeit von einem einzelnen Hersteller. Es ist daher wichtig zu prüfen, wie dieser Einfluss minimiert werden kann – zum Beispiel durch Einsatz von Open-Source-Software.
Die Frage, die wir diskutieren sollten: Wie können wir den Einfluss der großen IT-Konzerne auf unsere Schüler*innen beschränken?
Blinder Fleck: IT in den Schulen erfordert effektiven Datenschutz.
Für die Konzerne sind persönliche Daten der Rohstoff, den sie für ihren Gewinn ausbeuten – im Zweifelsfall auch zum Nachteil ihrer Nutzer. Aber auch im Hinblick auf den Schutz vor dem Staat, ist Datenschutz im Interesse aller Bürger*innen. Das Social-Credit-System in China zeigt wie weit Staaten in das Leben der Bürger*innen eingreifen können, wenn sie vorhandene Daten auswerten.
Bei aller Vorsicht darf man aber nicht vergessen: Daten sind ein Schatz. Der eingangs genannte Stefan Lorenz Sorgner zum Beispiel weist darauf hin, dass die Auswertung medizinischer Daten in Verbindung mit Bio-Technologie dabei helfen könnte, die Lebenserwartung der Menschen deutlich zu steigern. Und Anhänger des Learning Analytics sehen die Auswertung von Daten rund um die Lernprozesse als Chance. Vor diesem Hintergrund stellte erst kürzlich die FDP-Fraktion im Bundestag einen Antrag, Learning Analytics zu fördern.
Gerade bei Daten rund um das Lernen ist aber äußerste Vorsicht geboten, da es sich um äußerst sensible Daten handelt. Wer möchte schon, dass Unternehmen oder Staaten Zugriff auf sämtliche Beurteilungen aus der Schulzeit haben. Umso wichtiger wäre es, dass der Datenschutz an Schulen gestärkt wird.
Derzeit gelten Datenschützer auch an Schulen oftmals als Spielverderber. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Aufwand immens für Lehrer*innen und Schulen, die den Datenschutz ernst nehmen. Das Problem ist dabei vor allem, dass die Schulen wenig bis keine Unterstützung von den Behörden erhalten. Es ist bezeichnend, dass sich die besten Vorlagen für Datenschutz-Formulare nicht auf den Websites der behördlichen Datenschutzbeauftragten finden, sondern auf einer ehrenamtlich betriebenen Seite eines engagierten Lehrers.
Noch ärgerlicher ist es, dass es immer noch keine klaren Aussagen von Datenschützern gibt zu der Nutzung von Plattformen wie Office 365 oder G-Suite von Google. Damit Schulen rechtssicher agieren, sollten staatliche Behörden Anbieter von Software und Apps und ihre Datenschutzbestimmungen für den Schulgebrauch prüfen und ggf. zertifizieren.
Die Fragen, die wir diskutieren sollten: Wie können wir einen wirksamen Datenschutz an Schulen sicherstellen, ohne die Vorteile digitaler Lernplattformen zu verspielen?
Blinder Fleck: Der Digitalpakt genügt nicht ansatzweise, um die Defizite bei der Ausstattung und dem IT-Support zu kompensieren.
Um wie oben beschrieben handlungsorientiert an den Medienkompetenzen der Schüler*innen zu arbeiten, bedarf es digitaler Ausstattung. Hier haben viele Schulen großen Nachholbedarf. Geht es nach der Bundesregierung, hat sie hier laut der aktuellen Halbzeit-Bilanz der Großen Koalition mit dem Digitalpakt die Hausaufgaben gemacht.
Das Geld aus dem Digitalpakt reicht aber aus mehreren Gründen alleine nicht aus. Der Nachholbedarf ist viel zu groß. Zudem zieht jede Investition in digitale Technik Folgekosten mit sich – für Fortbildungen, IT-Support und die regelmäßige Erneuerung des Geräte-Bestandes. Eine Anschlussfinanzierung für den Digitalpakt ist aber derzeit nicht vorgesehen.
Ob der Digitalpakt tatsächlich der Startschuss für eine Verbesserung sein kann, hängt daher stark von den Städten und Gemeinden ab, die als Schulträger für die Ausstattung der Schulen verantwortlich sind. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, wenn die Schulen pädagogisch handlungsfähig sein sollen.
Die Fragen, die wir diskutieren sollten: Wie können langfristig Kommunen in die Lage versetzt werden, Schulen digital auszurüsten und Support zu leisten.
Blinder Fleck: Bei der Medienbildung gibt es eine soziale Spaltung.
Deutschlands Schüler*innen sind im internationalen Vergleich in Sachen Medienkompetenzen nur Mittelmaß. Das ist ein Ergebnis der kürzlich veröffentlichten ICLIS-Studie. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse und Reaktionen von Politkern findet sich zum Beispiel im Blog von Jan-Martin Wiarda. Alarmierend ist dabei, dass es offensichtlich auch bei den Medienkompetenzen zu einer sozialen Spaltung kommt:
„Dass sich hier eine gefährliche soziale Kluft zwischen den 33 Prozent Abgehängten und den übrigen öffnet, war schon nach dem ersten ICILS-Bericht 2013 klar, und – das ist die deprimierendste Nachricht – seitdem ist in Sachen digitaler Bildung in Deutschland offenbar nichts besser geworden. Wie in anderen Staaten sind die vorhandenen Kompetenzniveaus der Schüler zudem auch hierzulande an den soziöokonomischen Status der Eltern gekoppelt, soll heißen: Je ärmer, je bildungsferner, desto weniger fit für die digitale Welt.“
In diesem Zusammenhang erscheint es kontraproduktiv, dass die Mittel des Digitalpakts mit der Gießkanne verteilt werden, statt die Städte und Gemeinden zu fördern, die besonders großen Nachholbedarf haben. Darüber hinaus müssten Schulen in sozialen Brennpunkten gezielt mit zusätzlichem Lehrpersonal gefördert werden. Die Ergebnisse der ICLIS-Studie legen zudem nahe, dass es hier ggf. auch zusätzlicher Medienpädagogen bedarf.
Die Frage, die wir diskutieren sollten: Wie können wir verhindern, dass der sozioökonomische Status über die Medienbildung entscheidet?
Fazit: Es ist kompliziert
WIr als Gesellschaft sind gemeinsam gefordert, Antworten auf die genannten Fragen zu finden, um die Digitalisierung der Schulen zum Wohle der Schüler*innen verantwortungsvoll zu gestalten. Unsere Gesellschaft muss sich zwischen den offensichtlich fragwürdigen Polen der naiven Nutzung ohne Einschränkungen und der kompletten Ablehnung positionieren. Für einen fruchtbaren Diskurs müssen Kritiker und Enthusiasten aufeinander zugehen und einander zu hören – denn beide Seiten weisen auf sehr wichtige Punkte hin.
Auch wir Lehrkräfte müssen mit unseren Kolleg*innen ins Gespräch über Licht und Schatten der Digitalisierung in den Schulen kommen. Dafür müssen möglichst viele Gesprächsanlässe geschaffen werden, bei denen nicht zuletzt auch die Bedenkenträger zu Wort kommen. Sinnvoll erscheint es dabei möglichst auch Schulen miteinander zu vernetzen. Eine Möglichkeit ist die gemeinsame Arbeit an einem Medienkonzept in einer Stadt oder Gemeinde. Umso wichtiger ist es zudem, ein möglichst breites Fortbildungsangebot zu schaffen, das Lehrer*innen eben nicht nur den Umgang mit Geräten und Software, sondern auch eine vielfältige, handlungsorientierte Medienpädagogik nahe bringt, die kritischen Fragen thematisiert.
Nur wenn wir uns nicht vor der Auseinandersetzung mit den schwierigen Fragen drücken, können wir die digitale Welt aktiv gestalten. Sonst tun es andere.
Bild von Steve Riot bei Pixabay
Hallo Dominik – wieder ein toller Artikel! Ich recherchiere gerade ein wenig herum, durch welche Entwicklungen Leitmedienwechsel in der Geschichte begleitet wurde. Ich bilde mir bisher ein, bei den Reaktionen auf den Buchdruck ähnliche gesellschaftliche Verhaltensmuster (Dualismus, Polarisierung) zu sehen. Das hat einerseits etwas sehr Tröstliches, weil es Entwicklungen in die Normalität rückt. Aus der Innenperspektive ist es natürlich auch frustig bis ermüdend. Es bleibt spannend, wie sich das Ganze weiter entwickelt. Ich habe aus der Beratungsperspektive zurzeit viel Hoffnung: Viel mehr Menschen als ich je zu hoffen gewagt hatte, sehen den Digitalpakt nicht primär als Abgreifmöglichkeit für Ausstattung, sondern als Möglichkeit, sich dem kulturellen Wandel zu stellen. Die Anfragen nach Technikshows kommen eigentlich nur noch aus ganz bestimmten Schulformen.
Lieber Maik, Vielen Dank für das Lob. Das freut mich sehr zu hören. Ich glaube auch: Bei aller berechtigter Kritik am Digitalpakt: Er bringt Bewegung rein – auch weil sich Schulträger jetzt bewegen (müssen). Berater wie Du können dann dazu beitragen, dass das Geld dann auch sinnvoll ausgegeben wird.